Deutsche Dublin-Zuständigkeit für in Deutschland nachgeborenes Kind

Art. 20 Abs. 3 der Dublin-III-VO sieht vor, dass ein Kind von Schutzsuchenden das Dublin-Schicksal seiner Eltern oder sonstigen Familienangehörigen teilt und derselbe Mitgliedstaat, der für die Prüfung der Asylanträge der Familienangehörigen zuständig ist, auch für das Kind zuständig wird. Dies gilt auch, wenn das Kind erst nach Ankunft in dem Mitgliedstaat geboren wird, aber nach dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nur so lange, wie die Familienangehörigen „Antragsteller“ sind, also nicht mehr, wenn ihre Asylverfahren beendet sind.

Dem deutschen Bundesverwaltungsgericht war entsprechend schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass für in Deutschland geborene Kinder von Eltern, die bereits in einem anderen EU-Staat internationalen Schutz genießen, Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nicht passt (siehe Urteile vom 23. Juni 2020, Az. 1 C 37.19, dazu auch eine Pressemitteilung vom 11. August 2020, und vom 25. Mai 2021, Az. 1 C 2.20 und 1 C 39.20). Es ließ in den von ihm entschiedenen Verfahren offen, ob Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO in solchen Fallkonstellationen ausdehnend oder analog angewendet werden kann, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jeweils kein (rechtzeitiges) Aufnahmegesuch an den Mitgliedstaat gestellt hatte, in dem die Eltern ihre Schutzberechtigung erhalten hatten, und es die Asylanträge der Kinder jedenfalls aus diesem Grund nicht wegen der Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staats als unzulässig hätte ablehnen dürfen.

Dass der Europäische Gerichtshof die Frage der Dublin-Zuständigkeit für in Deutschland nachgeborene Kinder von bereits in einem anderen EU-Staat international Schutzberechtigten in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-720/20) dennoch beantworten konnte, ist dem Verwaltungsgericht Cottbus zu verdanken, das dem EuGH Ende 2020 ein bei ihm anhängiges Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte. In seinem Urteil hat der EuGH einer möglichen analogen Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nun einen klaren Riegel vorgeschoben: In Art. 9 Dublin-III-VO sei ausdrücklich geregelt, wie in der vorliegenden Fallkonstellation zu verfahren sei. Danach könne der Mitgliedstaat, der bereits Familienangehörige des Kindes anerkannt habe, auch für das Kind zuständig sein, jedoch nur, wenn die Betroffenen dies wünschen. Liege so ein Wunsch nicht vor, fänden die allgemeinen Zuständigkeitskriterien Anwendung und damit letztlich auch die Auffangzuständigkeit aus Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO, wonach derjenige Mitgliedstaat zuständig sei, in dem der Asylantrag gestellt wurde – hier also Deutschland. Auch ein humanitäres Aufnahmeersuchen gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO helfe dem Mitgliedstaat nicht, wenn die Betroffenen damit (wie hier) nicht einverstanden seien. Die Ablehnung eines Asylantrags eines in Deutschland geborenen Kindes als unzulässig sei außerdem nicht mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU zu vereinbaren, weil dafür erforderlich wäre, dass das Kind selbst bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten habe, was jedoch nicht der Fall sei.

Der EuGH hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Newsletter

  • Verbleibende Spielräume

    Der in dieser Einleitung zur Verfügung stehende Platz soll heute ausnahmsweise nicht dazu verwendet werden, um auf die (zahlreichen) wichtigen Entscheidungen der Woche hinzuweisen. Stattdessen geht es um die HRRF-Website, die in dieser Woche nicht nur sozusagen runderneuert wurde, damit sie noch mehr Inhalte und viele…

    Weiterlesen..

  • Herausragende Bedeutung

    Das Bundesverfassungsgericht legt nach und rügt erneut einen Grundrechtsverstoß bei der Anordnung von Abschiebungshaft, während der Bundesgerichtshof bei der Anordnung von Abschiebungshaft in einem anderen Verfahren eher großzügige Standards anwendet. Daneben geht es in dieser Woche um eine willkürliche Kostenentscheidung eines Sozialgerichts, ein beim Europäischen Gerichtshof…

    Weiterlesen..

  • Rechtsstaatliche Gesichtspunkte

    In den HRRF-Newsletter haben es diese Woche gleich drei aktuelle Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts geschafft, in denen es um rechtswidrige Abschiebungen und verweigerte Akteneinsicht, um gerichtliche Benachrichtigungspflichten bei der Anordnung von Abschiebungshaft und um die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Eilverfahren geht. Der Verwaltungsgerichtshof München nimmt derweil…

    Weiterlesen..

  • Praktische Wirksamkeit

    So richtig viel war nicht los in der flüchtlingsrechtlichen Rechtsprechung in dieser Woche (bitte senden Sie gerne aktuelle Entscheidungen ein!), ein wenig dann aber doch. Es geht unter anderem um die nunmehr vom Europäischen Gerichtshof entschiedene Frage, ob ein aus dem EU-Primärrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht von der…

    Weiterlesen..

  • Kompetentes Personal

    Der Europäische Gerichtshof hat es schon wieder getan und räumt mit der Gewohnheit offenbar vieler nationaler Asylbehörden auf, die Fristen zur Entscheidung über Asylanträge fast schon regelhaft von sechs auf 15 Monate zu verlängern. Das Verwaltungsgericht Stade mahnt derweil eine qualifizierte Auseinandersetzung mit ausländischen Flüchtlingsanerkennungen an,…

    Weiterlesen..

ISSN 2943-2871