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Prozessrechtliche Entität

Nicht nur der exotische Begriff der prozessrechtlichen Entität hat es in dieser Woche in den HRRF-Newsletter geschafft, sondern ebenso Pushbacks in Slowenien, das (nicht bestehende) Recht auf persönliche Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung, eine Anhörungsrüge vor dem BVerwG und die systematische Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Aufenthaltsrecht.

  • Keine Pushbacks in Slowenien

    Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Schutzsuchende, die gemäß der Dublin-III-Verordnung in einem geordneten Verfahren mit Zustimmung der slowenischen Behörden nach Slowenien überstellt werden, Opfer von illegalen Pushbacks oder Kettenabschiebungen werden, sagt das Verwaltungsgericht Greifswald in seinem Beschluss vom 19. Juli 2023 (Az. 3 B 645/22 HGW). Das ist eine etwas überspezifische Aussage, und so lässt sich das Gericht immerhin auch dazu herab, die Existenz von Pushbacks oder Kettenabschiebungen in Slowenien jedenfalls dann für möglich zu halten, wenn es zuvor „informelle Überstellungen“ aus anderen Staaten gegeben habe. Soweit das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 01. Februar 2023 (Az. M 10 S 22.50541) darauf verwiesen habe, dass sich die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung in Form von Kettenabschiebungen aus der bekannt gewordenen Abschiebung von Personen ergebe, die aufgrund von bilateralen Rücküberstellungsabkommen zuvor von anderen Staaten nach Slowenien abgeschoben worden seien, vermöge dies nicht zu überzeugen. Falls die Abschiebungen nach Slowenien aufgrund derartiger Rücküberstellungsabkommen durch Staaten erfolgt sein sollten, die ebenfalls den Regelungen der Dublin-III-Verordnung unterlägen, handelte es sich gleichsam um ein kollusives Zusammenwirken, bei dem auch der überstellende Staat bewusst das formalisierte Verfahren der Dublin-III-Verordnung durch Anwendung des bilateralen Rücküberstellungsabkommens umgehen würde. Ein derartiges Verhalten der Bundesrepublik Deutschland sei jedoch nicht erkennbar.

  • Kein Recht auf persönliche Teilnahme an Gerichtsverhandlung

    Ein ureigenes prozessuales Recht auf eine persönliche Teilnahme des Beteiligten an der Terminsstunde existiert im Verwaltungsprozess nicht im Sinne einer Pflicht des Gerichts, zur Wahrung der Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG in jedem Fall nur bei persönlicher Anwesenheit der Beteiligten zu verhandeln, meint das Oberverwaltungsgericht Koblenz in seinem Beschluss vom 27. Juli 2023 (Az. 13 A 10956/22.OVG). Jedenfalls bei einer anwaltlichen Vertretung des Beteiligten unterfalle es dann nicht mehr dem Gewährleistungsgehalt des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, wenn der Beteiligte im Termin durch seinen Prozessbevollmächtigten hinreichend vortragen kann oder bei dessen Anwesenheit vortragen könnte. Die Prozessordnung verstehe den Beteiligten im Sinne von § 63 Nr. 1 VwGO nicht als Individuum, sondern als prozessrechtliche Entität, sodass die Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten grundsätzlich zur Wahrung des Gehörsanspruchs ausreiche.

  • Erfolglose Anhörungsrüge in Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

    Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom 13. Juni 2023 (Az. 1 VR 2.23) eine Anhörungsrüge gegen seinen Beschluss vom 17. Mai 2023 (Az. 1 VR 1.23) zurückgewiesen. In dem Verfahren ging es um die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gemäß § 58a AufenthG, mit der Anhörungsrüge wurde geltend gemacht, dass das Gericht nicht bzw. nicht ausreichend erörtert habe, dass dem Antragsteller durch die Versagung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren die Möglichkeit genommen worden sei, seine Ausreise in ein sicheres Drittland zu organisieren. Das BVerwG sah darin keinen Gehörsverstoß im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

  • Systematische Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Aufenthaltsrecht

    Mit dem sehr interessanten Thema der systematischen Auslegung des Aufenthaltsrechts befasst sich der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 25. Juli 2023 (Az. 11 S 985/22), der in einem Eilverfahren ergangen ist. In dem Verfahren wollte die ausreisepflichtige Antragstellerin, die mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet und Mutter eines Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit ist, eine Verfahrensduldung erreichen, damit sie nicht zur Nachholung des Visumsverfahrens ausreisen muss. Die zuständige Ausländerbehörde sah keinen Spielraum und drohte die Abschiebung an, was das erstinstanzlich mit dem Verfahren befasste Verwaltungsgericht für rechtmäßig hielt.

    Nicht so der VGH Mannheim, der die Abschiebung untersagte, weil der Antragstellerin vermutlich Titelerteilungsansprüche nach § 25 Abs. 5 und § 28 Abs. 1 AufenthG zustünden. Die Annahme der Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen für diese Aufenthaltstitel nicht vorlägen, sei falsch, so dass die Behörde jedenfalls ihr Ermessen noch gar nicht ausgeübt habe. Zwar sei die Antragstellerin wegen aufenthaltsrechtlicher Straftaten verurteilt worden, die erfolgte Strafzumessung mache aber deutlich, dass das Strafgericht die Verfehlungen der Antragstellerin nicht als besonders schwerwiegend eingeschätzt habe.

    Mit der Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen liege die strafgerichtliche Verurteilung der Antragstellerin deutlich unter der Linie, die der Gesetzgeber in den § 19d Abs. 1 Nr. 7, § 25a Abs. 3, § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als zwingenden Ausschlussgrund für die Erteilung bestimmter Aufenthaltserlaubnisse gezogen habe. In diesen Bestimmungen werde die angesprochene Linie in Bezug auf Delikte, die nur von Ausländern begangen werden können und damit typischerweise die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland betreffen, konsequent auf Geldstrafen von insgesamt mehr als 90 Tagessätzen festgelegt. Die genannten Vorschriften kämen im vorliegenden Fall zwar nicht unmittelbar zur Anwendung, sie seien im Rahmen der systematischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in anderen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, etwa § 25 Abs. 5 AufenthG, aber als gesetzgeberische Wertungen zu berücksichtigen, wenn es um die Gewichtung einwanderungspolitischer Belange der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Bleibeinteressen eines Ausländers gehe. Im vorliegenden Fall dürfte darum dem Interesse am weiteren Aufenthalt der Antragstellerin im Vergleich zu den entgegenstehenden einwanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland größeres Gewicht zuzumessen sein.

  • Vermischtes aus Berlin

    Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Juni 2023 (Az. 65 S 39/23) zur Frage des berechtigten Interesses zur Untervermietung einer Wohnung an Geflüchtete ist jetzt auch frei in der Landesrechtsprechungsdatenbank des Landes Berlin verfügbar.

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ISSN 2943-2871