Die neue Textausgabe zum Deutschen Migrationsrecht ist da - jetzt herunterladen oder bestellen!
Ausgabe 47 • 27.5.2022

Atypische Fallkonstellationen

Atypische Fallkonstellationen können eine Ausländerbehörde verpflichten, von der Regelerteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses abzusehen, meint das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in einem knapp begründeten, aber gleichwohl lesenswerten Beschluss. Außerdem in dieser Ausgabe ein bunter Strauß weiterer Entscheidungen, vorwiegend zum Aufenthalts- und Abschiebungshaftrecht.

EGMR zu inhaftierten Migranten in der Ukraine

Mit einer am 20. Mai 2022 erlassenen vorläufigen Maßnahme hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ukraine aufgefordert, zwei Migranten, die in Mykolajiw in der Nähe der Frontlinie inhaftiert sind, in ein sichereres Gebiet der Ukraine zu bringen. Die Migranten befinden sich offenbar in einer Art Abschiebungshaft, wie aus einem Bericht von Human Rights Watch vom 6. Mai 2022 hervorgeht.

Gefährdung von christlichen Konvertierten im Iran

Mit Urteil vom 2. März 2022 (Az. 4 LB 785/20 OVG) hat das Oberverwaltungsgericht Greifswald das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dazu verpflichtet, zwei Kläger als Flüchtlinge anzuerkennen, weil ihnen wegen ihrer Konversion zum christlichen Glauben im Fall der Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen des iranischen Staates drohten. Die Konversion zum Christentum setze einen iranischen Staatsangehörigen mit ursprünglich schiitischer Religionszugehörigkeit für sich genommen noch nicht einer begründeten Furcht vor Verfolgung aus, maßgeblich für das Maß der Verfolgungsgefahr sei vielmehr, wie sich der Betreffende im Iran verhalte und inwieweit die Konversion nach außen erkennbar sei. Bei zwei der vier Kläger, so das OVG, sei nicht zu erwarten, dass es ihnen im Iran gelingen würde, ihre Religion zurückhaltend und unauffällig auszuüben; bei zwei weiteren Klägern stellte das Gericht dagegen keine identitätsprägende Konversion zum Christentum fest.

Prozessuale Anforderungen an Antragsänderungen im Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes

Antragsänderungen sind in Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in entsprechender Anwendung von § 91 Abs. 1 VwGO und § 264 Nr. 3 ZPO zulässig, wenn sie einer nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetretenen Veränderung der Sach- oder Rechtslage Rechnung tragen, so das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Beschluss vom 19. Mai 2022 (Az. 2 B 89/22). Daraus folge aber auch, so das OVG, dass ohne Veränderung der Sach- und Rechtslage Antragsänderungen bereits in der ersten Instanz vorgebracht werden müssten. Für die konkrete Verfahrenskonstellation ergebe sich daraus, dass im Beschwerdeverfahren nur dann von einem Antrag auf Untersagung der Abschiebung zu einem Antrag auf Rückholung nach Deutschland übergegangen werden kann, wenn die Abschiebung nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts stattgefunden hat.

Anforderungen an Feststellung von Abschiebungsverboten für EU-Staatsangehörige

In seinem Urteil vom 26. April 2022 (Az. 21 K 9/22 A) hat das Verwaltungsgericht Berlin festgehalten, dass die Feststellung von Abschiebungsverboten für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie für dort aufenthaltsberechtigte Staatenlose grundsätzlich nicht in Betracht kommt, weil eine widerlegliche Vermutung dafür bestehe, dass sie in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention behandelt werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof bereits für Asylverfahren von Drittstaatsangehörigen im sogenannten Dublin-Verfahren entwickelte Vermutung sei auf Asylverfahren von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie dort aufenthaltsberechtigte Staatenlose zu übertragen. Im entschiedenen Verfahren entschied das VG, dass allein eine vergleichsweise hohe Zuzahlungspflicht für Medikamente in Lettland kein Indiz für objektive systemische Schwachstellen oder Mängel im Gesundheitssystem darstelle und jedenfalls ein HIV-kranker Kläger davon nicht konkret betroffen wäre, weil antiretrovirale Therapien jeder mit HIV infizierten Person unabhängig vom aktuellen Zustand ihres Immunsystems kostenlos zur Verfügung stünden.

Atypische Fallkonstellation bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses

Die im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung bestehender Ausweisungsinteressen mit widerstreitenden Bleibeinteressen habe sich, um eine insoweit nicht gebotene inzidente umfassende Prüfung einer hypothetischen Ausweisung zu vermeiden, auf ohne Weiteres erkennbare Gesichtspunkte zu beschränken, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 17. Mai 2022 (Az. 13 ME 113/22). Stünden dabei schwerwiegenden Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 Abs. 2 AufenthG erkennbar vom Gesetzgeber als besonders schwerwiegend eingeordnete Bleibeinteressen im Sinne des § 55 Abs. 1 AufenthG gegenüber, so sei im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich vom Bestehen einer atypischen Fallkonstellation auszugehen, die es bereits auf Tatbestandsseite gebiete, vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Der Erreichung des gesetzgeberischen Ziels, Kettenduldungen grundsätzlich zu vermeiden, stehe es entgegen, den Aufenthalt eines Ausländers, bei dem schwerwiegende Ausweisungsinteressen und besonders schwerwiegende Bleibeinteressen einander gegenüberstehen, auf lange Sicht lediglich zu dulden und damit die Ausnahme zur Regel zu machen.

Beseitigung von Fiktionen und Fortgeltungswirkung durch eine Entscheidung der Ausländerbehörde

Mit Beschluss vom 12. Mai 2022 (Az. 13 PA 138/22) hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg festgehalten, dass die Fiktionen bzw. die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 3 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 4 Sätze 1 und 3 AufenthG stets nur bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über einen gestellten Titelerteilungs- oder Titelverlängerungsantrag bestehen und dass selbst aufgrund eines erfolgreichen Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Anfechtungsteils einer Klage gegen die Titelversagung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO eine einmal beseitigte Fiktion oder Fortgeltungswirkung nicht wieder auflebe. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung suspendiere nur eine durch die Versagung vollziehbar entstandene Ausreisepflicht und beseitige mithin deren Vollziehbarkeit.

Keine Zuständigkeit der Ausländerbehörde bei Abschiebung aufgrund einer Abschiebungsanordnung

In der Fallgestaltung, in der eine Abschiebung allein auf der Grundlage einer vollziehbaren Abschiebungsanordnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 34a AsylG erfolgen soll, obliegt es allein dem Bundesamt zu prüfen, ob im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG weiterhin feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 10. Mai 2022 (Az. 13 ME 127/22). Das Bundesamt habe damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibe. Insoweit bestehe eine von der gewöhnlichen Rollenverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde abweichende Gesamtzuständigkeit des Bundesamts, die eine Entscheidung aus einer Hand sichern solle, und zwar nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen, so dass gegebenenfalls das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben oder die Ausländerbehörde anzuweisen habe, von deren Vollziehung abzusehen. Anderes gelte unter Berücksichtigung des Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nur in zeitlich extrem zugespitzten Ausnahmefällen, in denen auf dem dargelegten vorrangigen Rechtsschutzweg eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung für den Betroffenen nicht mehr erreichbar sei.

Vorsprachepflicht vor Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer

Die Entscheidung der Ausländerbehörde über die Anordnung oder das Absehen von einer Vorspracheverpflichtung nach § 15a Abs. 2 AufenthG hat keinen Einfluss darauf, dass das Verteilungsverfahren durch die die Verteilung veranlassende Behörde im Sinne § 15a Abs. 1 Satz 5 AufenthG und durch die zentrale Verteilungsstelle im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 3 AufenthG durchzuführen ist, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 12. Mai 2022 (Az. 13 ME 115/22). Für die Ausländerbehörde sei das Vorliegen zwingender Gründe im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG nur insoweit von Bedeutung, als dies gemäß § 15a Abs. 2 Satz 2 AufenthG deren Befugnis ausschließe, den Ausländer nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu verpflichten, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung veranlasst; der Ausschlussgrund des § 15a Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 6 AufenthG greife nur dann ein, wenn die Verpflichtung, sich zu der die Verteilung veranlassenden Behörde zu begeben, sich aufgrund der Eindeutigkeit der Sachlage und des daher fehlenden Aufklärungsbedarfs als bloße Förmelei oder gar Schikane darstelle, insoweit gelte ein vom eigentlichen Verteilungsverfahren abweichender Maßstab.

Nachholung rechtlichen Gehörs in Abschiebungshaftsachen

Mit Beschluss vom 22. Februar 2022 (Az. XIII ZB 74/20) hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass in Abschiebungshaftsachen im Abhilfeverfahren eine erneute Anhörung durchgeführt werden muss, wenn das Gericht zuvor unter Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens eine Haftanordnung im Hauptsacheverfahren erlassen hat, anstatt wie geboten lediglich vorläufig über die Freiheitsentziehung zu entscheiden, und sich in der Folge ein Rechtsanwalt für den Betroffenen meldet. Im entschiedenen Verfahren hatte der Betroffene im erstinstanzlichen Anhörungstermin geäußert, dass er einen Rechtsanwalt hinzuziehen und die Benennung des Rechtsanwalts nachholen wolle. Dies könnte so zu verstehen sein, dass der Betroffene auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand verzichten wolle, könnte aber auch so zu verstehen sein, dass er eine Anhörung nur im Beisein eines Rechtsanwalts wünsche. Das Amtsgericht habe den Willen des Betroffenen aber nicht aufgeklärt, darum sei zur Sicherung des Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass ihm der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde.

Anforderungen an Abschiebungsandrohung in Abschiebungshaftsachen

Ist ein Ausländer unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist oder auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden, ist die Ausländerbehörde nicht verpflichtet, dem Ausländer die Abschiebungsandrohung in Form eines Standardformulars mit Erläuterungen gemäß § 77 Abs. 3 Satz 5 AufenthG zu übergeben, so der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 5. April 2022 (Az. XIII ZB 18/21). Die Ausländerbehörde könne auch nach § 77 Abs. 3 Satz 1 bis 3 der Vorschrift vorgehen, in diesem Fall habe sie dem Ausländer (nur) auf einen entsprechenden Antrag hin eine mündliche oder schriftliche Übersetzung der Abschiebungsandrohung zur Verfügung zu stellen. Dieses Vorgehen sei mit den Anforderungen der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vereinbar.

Anforderungen an Mitteilung der Bestellung als Rechtsanwalt

Das Haftgericht muss einen Verfahrensbevollmächtigten zum Anhörungstermin in einer Abschiebungshaftsache nur laden, wenn der Bevollmächtigte in dem Verfahren zur Entscheidung über den Haftantrag der beteiligten Behörde seine Bestellung angezeigt oder der Betroffene von der Bestellung Mitteilung gemacht hat, so der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 5. April 2022 (Az. XIII ZB 22/21). Eine solche Mitteilung sei nicht entbehrlich, wenn der Verfahrensbevollmächtigte den Betroffenen in einem vorhergehenden ausländerrechtlichen Verfahren vertreten hat, denn dabei handele es sich um ein anderes Verfahren, das vor einem anderen Gericht geführt werde, so dass sich die Vollmacht auf das Freiheitsentziehungsverfahren nicht erstrecke.

Anforderungen an Haftbegründung bei Sammelabschiebung

Mit Beschluss vom 5. April 2022 (Az. XIII ZB 41/21) hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine Behörde sich gerade in der Sondersituation der Coronavirus-Pandemie ermessensfehlerfrei für eine Rückführung mit Sammelchartern entscheiden durften, auch wenn dies zu längerer Abschiebungshaft führte, dass die Behörde aber bei einer Haftdauer von knapp 12 Wochen hätte prüfen müssen, ob eine frühere unbegleitete Flugüberstellung möglich gewesen wäre.

Rechtswidrige Inhaftierung durch Vereitelung der Teilnahme eines Rechtsanwalts an Haftanhörung

Mit Beschluss vom 25. April 2022 (Az. XIII ZB 50/21) hat der Bundesgerichtshof erneut festgehalten, dass die Vereitelung der Teilnahme des Bevollmächtigten eines Betroffenen an der Haftanhörung die Haft ohne Weiteres rechtswidrig macht. In dem entschiedenen Verfahren hatte das Haftgericht den Verfahrensbevollmächtigten erst am Tag der Anhörung telefonisch über den Anhörungstermin in Kenntnis gesetzt und die Anhörung ohne ihn durchgeführt.

Sachaufklärungspflicht des Gerichts bei parallelen Rechtsmitteln gegen Abschiebungshaft

Hat in einer Haftsache das Beschwerdegericht über eine Beschwerde gegen die Anordnung von Abschiebungshaft entschieden und den Sachverhalt dabei aufgeklärt, darf es eine Beschwerde im Haftaufhebungsverfahren nach § 426 FamFG ohne weitere Sachverhaltsklärung zurückweisen, so der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 22. März 2022 (Az. XIII ZB 6/21).

Vermischtes vom BVerwG

In zwei weiteren weiteren Verfahren, in denen es um die Frage der Zulässigkeit einer Abschiebung von in Italien anerkannten Schutzberechtigten nach Italien ging, hat das Bundesverwaltungsgericht Nichtzulassungsbeschwerden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gegen Beschlüsse des OVG Münster mit Beschlüssen vom 7. März 2022 (Az. 1 B 21.22) und vom 9. März 2022 (Az. 1 B 24.22) zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 28. März 2022 (Az. 1 B 35.22) hat das BVerwG eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bautzen vom 9. Dezember 2021 (Az. 3 A 386/20) verworfen, in dem Verfahren ging es um die Ausstellung von „Fantasiepapieren“, wenn Ausländer zwar nicht abgeschoben wurden, aber auch keine Duldung erhielten. In dem Verfahren um ein ausweisungsbezogenes Einreise- und Aufenthaltsverbot bei allein asylrechtlicher Rückkehrentscheidung hat das BVerwG den Volltext seines Urteils vom 16. Februar 2022 (Az. 1 C 6.21) jetzt veröffentlicht.