Systematische Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Aufenthaltsrecht

Mit dem sehr interessanten Thema der systematischen Auslegung des Aufenthaltsrechts befasst sich der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 25. Juli 2023 (Az. 11 S 985/22), der in einem Eilverfahren ergangen ist. In dem Verfahren wollte die ausreisepflichtige Antragstellerin, die mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet und Mutter eines Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit ist, eine Verfahrensduldung erreichen, damit sie nicht zur Nachholung des Visumsverfahrens ausreisen muss. Die zuständige Ausländerbehörde sah keinen Spielraum und drohte die Abschiebung an, was das erstinstanzlich mit dem Verfahren befasste Verwaltungsgericht für rechtmäßig hielt.

Nicht so der VGH Mannheim, der die Abschiebung untersagte, weil der Antragstellerin vermutlich Titelerteilungsansprüche nach § 25 Abs. 5 und § 28 Abs. 1 AufenthG zustünden. Die Annahme der Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen für diese Aufenthaltstitel nicht vorlägen, sei falsch, so dass die Behörde jedenfalls ihr Ermessen noch gar nicht ausgeübt habe. Zwar sei die Antragstellerin wegen aufenthaltsrechtlicher Straftaten verurteilt worden, die erfolgte Strafzumessung mache aber deutlich, dass das Strafgericht die Verfehlungen der Antragstellerin nicht als besonders schwerwiegend eingeschätzt habe.

Mit der Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen liege die strafgerichtliche Verurteilung der Antragstellerin deutlich unter der Linie, die der Gesetzgeber in den § 19d Abs. 1 Nr. 7, § 25a Abs. 3, § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als zwingenden Ausschlussgrund für die Erteilung bestimmter Aufenthaltserlaubnisse gezogen habe. In diesen Bestimmungen werde die angesprochene Linie in Bezug auf Delikte, die nur von Ausländern begangen werden können und damit typischerweise die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland betreffen, konsequent auf Geldstrafen von insgesamt mehr als 90 Tagessätzen festgelegt. Die genannten Vorschriften kämen im vorliegenden Fall zwar nicht unmittelbar zur Anwendung, sie seien im Rahmen der systematischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in anderen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, etwa § 25 Abs. 5 AufenthG, aber als gesetzgeberische Wertungen zu berücksichtigen, wenn es um die Gewichtung einwanderungspolitischer Belange der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Bleibeinteressen eines Ausländers gehe. Im vorliegenden Fall dürfte darum dem Interesse am weiteren Aufenthalt der Antragstellerin im Vergleich zu den entgegenstehenden einwanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland größeres Gewicht zuzumessen sein.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Newsletter

  • Verbleibende Spielräume

    Der in dieser Einleitung zur Verfügung stehende Platz soll heute ausnahmsweise nicht dazu verwendet werden, um auf die (zahlreichen) wichtigen Entscheidungen der Woche hinzuweisen. Stattdessen geht es um die HRRF-Website, die in dieser Woche nicht nur sozusagen runderneuert wurde, damit sie noch mehr Inhalte und viele…

    Weiterlesen..

  • Herausragende Bedeutung

    Das Bundesverfassungsgericht legt nach und rügt erneut einen Grundrechtsverstoß bei der Anordnung von Abschiebungshaft, während der Bundesgerichtshof bei der Anordnung von Abschiebungshaft in einem anderen Verfahren eher großzügige Standards anwendet. Daneben geht es in dieser Woche um eine willkürliche Kostenentscheidung eines Sozialgerichts, ein beim Europäischen Gerichtshof…

    Weiterlesen..

  • Rechtsstaatliche Gesichtspunkte

    In den HRRF-Newsletter haben es diese Woche gleich drei aktuelle Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts geschafft, in denen es um rechtswidrige Abschiebungen und verweigerte Akteneinsicht, um gerichtliche Benachrichtigungspflichten bei der Anordnung von Abschiebungshaft und um die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Eilverfahren geht. Der Verwaltungsgerichtshof München nimmt derweil…

    Weiterlesen..

  • Praktische Wirksamkeit

    So richtig viel war nicht los in der flüchtlingsrechtlichen Rechtsprechung in dieser Woche (bitte senden Sie gerne aktuelle Entscheidungen ein!), ein wenig dann aber doch. Es geht unter anderem um die nunmehr vom Europäischen Gerichtshof entschiedene Frage, ob ein aus dem EU-Primärrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht von der…

    Weiterlesen..

  • Kompetentes Personal

    Der Europäische Gerichtshof hat es schon wieder getan und räumt mit der Gewohnheit offenbar vieler nationaler Asylbehörden auf, die Fristen zur Entscheidung über Asylanträge fast schon regelhaft von sechs auf 15 Monate zu verlängern. Das Verwaltungsgericht Stade mahnt derweil eine qualifizierte Auseinandersetzung mit ausländischen Flüchtlingsanerkennungen an,…

    Weiterlesen..

ISSN 2943-2871