Grundrechtsverletzung durch fiktive Klagerücknahme

Mit Beschluss vom 7. Februar 2023 (Az. 2 BvR 1057/22) hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass eine verwaltungsgerichtliche Anwendung von § 81 AsylG, wonach eine asylgerichtliche Klage als zurückgenommen gilt, wenn das Verfahren durch den Betroffenen länger als einen Monat nicht betrieben wird, gegen das Grundrecht des Betroffenen aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 Grundgesetz verstoßen kann. In dem entschiedenen Verfahren hatte das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, weil sie nicht fristgemäß begründet worden sei. Aus der fehlenden Klagebegründung jedoch, so das BVerfG, ließe sich im vorliegenden Einzelfall trotz der Mitwirkungspflicht aus § 74 Abs. 2 AsylG kein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers herleiten, weil das Verwaltungsgericht einem Antrag des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht noch nicht Folge geleistet hatte und es nicht zwingend zu erwarten war, dass dieser die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel trotz der Monatsfrist des § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG vor erfolgter Akteneinsicht angeben würde. Die nachteilige Rechtsfolge der Präklusion nach § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG, § 87b Abs. 3 VwGO hätte der Beschwerdeführer vor erfolgter Akteneinsicht nicht zu befürchten gehabt, da bei nicht rechtzeitig gewährter Akteneinsicht durch das Gericht auch eine Entschuldigung verspäteten Vortrags nach § 87b Abs. 3 VwGO in Frage komme.

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ISSN 2943-2871