Dublin-Überstellungen können trotz Pushbacks zulässig sein

Praktiken der pauschalen Zurückschiebung oder Zurückweisung und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen in einem EU-Mitgliedstaat bedeuten nicht zwangsläufig, dass in diesem Staat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung vorliegen, die eine Dublin-Überstellung verhindern würden, meint der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. Februar 2024 (Rs. C-392/22), und zwar auch dann nicht, wenn diese Praktiken mit dem Unionsrecht unvereinbar sind und gravierende Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende darstellen.

Die Entscheidung ist Wasser auf die Mühlen der Anhängerinnen und Anhänger einer „künstlichen“ (so noch das Verwaltungsgericht Braunschweig in seinem Urteil vom 8. Mai 2023, Az. 2 A 269/22) Differenzierung zwischen der Gruppe aller Schutzsuchender und der Gruppe (nur) der Dublin-Rückkehrerinnen und -Rückkehrer. In dem vom EuGH entschiedenen Verfahren ging es um einen syrischen Schutzsuchenden, der von Belarus kommend im November 2021 nach Polen eingereist war und dort internationalen Schutz beantragt hatte. Er hatte vorgebracht, nach seiner Einreise in polnisches Hoheitsgebiet zunächst dreimal im Wege eines Pushbacks nach Belarus zurückgeschoben und sodann nach letztlich erfolgreicher Äußerung eines Asylgesuchs eine Woche lang in einem polnischen Grenzschutzzentrum festgehalten worden zu sein, bevor er innerhalb der EU weiterreisen und schließlich in den Niederlanden einen erneuten Asylantrag stellen konnte.

Der EuGH äußerte dazu, dass bei der rechtlichen Beurteilung von Dublin-Überstellungen nur solche Schwachstellen in EU-Mitgliedstaaten relevant seien, die gerade „systemische Schwachstellen“ seien und die im Einzelfall die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung mit sich brächten. In dem entschiedenen Verfahren hätten die niederländischen Gerichte zu prüfen, ob die festgestellten Schwachstellen in Polen immer noch vorhanden seien und ob sie allgemein das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen beträfen, die für Personen gelten, die internationalen Schutz beantragt hätten, oder zumindest für bestimmte Personen, die internationalen Schutz beantragen, wie beispielsweise die Gruppe von Personen, die internationalen Schutz suchten, nachdem sie die Grenze zwischen Polen und Belarus überschritten hätten oder diese Grenze zu überschreiten versucht hätten. Sollte sich herausstellen, dass dies der Fall sei, könnten diese Mängel im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen systemischen Schwachstellen gleichgesetzt werden können, als „systemisch“ eingestuft werden.

Wenn solche systemischen Schwachstellen vorliegen, müsse es außerdem zum einen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme geben, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens im Fall einer Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, erneut an die Grenze zwischen Polen und Belarus verbracht und dort, gegebenenfalls nach einer Inhaftnahme an einer Grenzübergangsstelle, im Wege eines Pushbacks nach Belarus zurückgeschoben zu werden, und zum anderen, ob solche Maßnahmen oder Praktiken ihn einer Situation extremer materieller Not aussetzen würden. Bei dieser Beurteilung sei die Situation zu berücksichtigen, in der sich der betreffende Antragsteller bei der Überstellung oder nach der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat zu befinden drohe, und nicht diejenige, in der er sich befand, als er ursprünglich in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreiste.

Der Mitgliedstaat, der einen Schutzsuchenden überstellen wolle, müsse zum einen alle Informationen berücksichtigen, die ihm dieser Schutzsuchende vorlege, und müsse zum anderen bei der Ermittlung der Tatsachen mitwirken, indem er das Vorliegen von Gefahren im zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht verbürgten Schutzstandard für die Grundrechte würdige. Er müssen außerdem gegebenenfalls von sich aus sachdienliche Informationen zu etwaigen systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat berücksichtigen, die ihm nicht unbekannt sein könnten. Bevor er zu dem Schluss komme, dass im Fall einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bestehe, könne sich der Mitgliedstaat jedoch um individuelle Garantien bemühen, wenn diese glaubhaft seien und ausreichten, um die tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen.

Der EuGH hatte bereits in seinem Urteil vom 30. November 2023 (Rs. C-228/21 u.a.) eine gewisse Relativierung seiner früheren Rechtsprechung vorgenommen, indem er entschied, dass ein die Überstellung von Schutzsuchenden beabsichtigender Mitgliedstaat eine möglicherweise im zuständigen Mitgliedstaat bestehende Gefahr einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung erst dann prüfen dürfe, wenn er zuvor festgestellt habe, dass in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische (und gerade nicht nur im Einzelfall bestehende) Schwächen bestünden.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Newsletter

  • Fortdauernde Flucht

    Ein allgemeiner Erfahrungssatz besagt, dass man zu jeder migrationsrechtlichen Frage Entscheidungen von mindestens zwei Gerichten finden kann, in denen zu dieser Frage gegensätzliche Rechtsauffassungen vertreten werden. Das Verwaltungsgericht Berlin probiert in dieser Woche aus, ob man das nicht auch innerhalb des Gerichts hinkriegt: Die 37. Kammer…

    Weiterlesen..

  • Contra mundum

    Es geht in dieser Woche um die vom französischen Asylgerichtshof angenommene Gruppenverfolgung von Palästinensern im Gazastreifen, um Gefahren in der Zentral- und Westukraine, die das Verwaltungsgericht Berlin für nicht beachtlich hält, und um mögliche Kampfeinsätze in der Ukraine als Gefahr für russische Wehrpflichtige, über die sich…

    Weiterlesen..

  • Schwierige Verhältnisse

    Die Rechtsprechung im Asyl- und Migrationsrecht wird gefühlt auch jede Woche politischer. Das liegt wohl weniger an den Gerichten als vielmehr an der neuen Bundesregierung, die mit juristisch zweifelhaftem Aktionismus aufwartet und aufwarten lässt. In dieser Woche geht es dementsprechend um Zurückweisungen, die vielleicht gar keine…

    Weiterlesen..

  • Fiktiver Aufenthalt

    Was tut die italienische Regierung mit einem leerstehenden Migrationszentrum in Albanien, in dem sie keine Schutzsuchenden unterbringen (d.h. inhaftieren) kann, weil die italienischen Gerichte Einwände haben? Sie widmet das Zentrum einfach in eine Abschiebungshaftanstalt um. Ärgerlich nur aus Sicht der Regierung, dass die italienischen Gerichte schon…

    Weiterlesen..

  • Restriktivere Handhabung

    Mal wieder eine Dublin-Woche im HRRF-Newsletter, in der darum geht, ob die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils einem neuen Dublin-Bescheid im Wege steht (ja), ob Dublin-Überstellungsfristen durch gerichtlichen Eilrechtsschutz unterbrochen werden (man ist sich nicht einig) und ob Schutzberechtigten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen (man ist sich ebenfalls…

    Weiterlesen..

ISSN 2943-2871