Deutsche Praxis zum Elternnachzug zu Flüchtlingen ist europarechtswidrig

§ 36 AufenthG erlaubt den Familiennachzug von Eltern zu ihrem minderjährigen Kind, das mit einem humanitären Aufenthaltstitel in Deutschland lebt. Aber wann genau muss das Kind denn (noch) minderjährig sein, wenn es zu seinen Eltern nach Deutschland ziehen will? Der Europäische Gerichtshof hatte in Auslegung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG eigentlich schon in seinem Urteil vom 12. April 2018 (Rs. C-550/16) entschieden, dass es auf den Zeitpunkt ankommt, in dem das Kind seinen Asylantrag gestellt hat. Das deutsche Bundesverwaltungsgericht war sich aber nicht sicher, ob der EuGH das wirklich so gemeint hatte, und fragte in einem neuen Vorabentscheidungsverfahren lieber noch einmal nach. Es stellte sich heraus, dass der EuGH das tatsächlich so gemeint hatte.

In seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-273/20 u. C-355/20) stellt der EuGH relativ ausdrücklich klar, dass der Familiennachzug zu einem volljährig gewordenen Kind, das als Flüchtling anerkannt wurde, nicht abgelehnt werden kann, wenn das Kind erst nach Stellung seines Asylantrags, etwa zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörden über den von den Eltern gestellten Antrag auf Familienzusammenführung, volljährig geworden ist, und dass die Volljährigkeit auch kein Grund ist, um das Aufenthaltsrecht der Eltern wieder entfallen zu lassen. Außerdem führte der EuGH aus, dass für einen Anspruch auf Familienzusammenführung zwar nicht das bloße Verwandtschaftsverhältnis ausreiche, aber auch ein Zusammenleben von Eltern und volljährigem Kind nicht erforderlich sei. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jedweder Art seien ausreichend.

Siehe zu diesem (und dem nächsten) Urteil auch die Pressemitteilung des EuGH sowie die ausführlichen Beiträge auf der Website des Informationsverbunds Asyl & Migration sowie von Constantin Hruschka in der LTO.

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ISSN 2943-2871