Deutsche Praxis zum Kindernachzug zu Flüchtlingen ist europarechtswidrig

Nach § 32 AufenthG hat ein minderjähriges lediges Kind einen Anspruch auf Familiennachzug zu seinen in Deutschland lebenden Eltern, wenn diese u.a. ein humanitäres Aufenthaltsrecht haben. Auch hier stellt sich wieder die Frage, zu welchem Zeitpunkt genau das Kind minderjährig sein muss, wenn ein Familiennachzug angestrebt wird. Der Europäische Gerichtshof hatte sich grundsätzlich zwar bereits zu dieser Frage geäußert (Urteil vom 16. Juli 2020, Rs. C-133/19, C-136/19 und C-137/19), dabei aber nicht entschieden, welche Auswirkungen gerade die Flüchtlingseigenschaft der Eltern auf die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts zur Bestimmung der Minderjährigkeit des nachziehenden Kindes haben sollte.

Das hat er nun in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-279/20) nachgeholt, das sich ebenfalls mit der Auslegung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG befasst. Danach kommt es beim Kindernachzug zu ihren als Flüchtlingen anerkannten Eltern, ebenso wie im umgekehrten Fall des Elternnachzugs zu ihrem als Flüchtling anerkannten Kind, auf den (frühen) Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags der später als Flüchtlinge anerkannten Eltern an, jedenfalls sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung der Eltern als Flüchtlinge gestellt wird.

Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund des früheren EuGH-Urteils aus dem Jahr 2020 ein klein wenig überraschend, hatte der EuGH doch damals noch auf den (späteren) Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung abgestellt. Allerdings kam es damals, anders als jetzt im Urteil vom 1. August 2022, nicht auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags an. Begründet hat der EuGH seine Ansicht mit der Erwägung, dass die Flüchtlingsanerkennung schließlich deklaratorisch sei, ein Flüchtling somit bereits ab dem Zeitpunkt seines entsprechenden Antrags ein Recht auf Zuerkennung dieser Eigenschaft habe, und der Schutz minderjähriger Kinder nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Asylanträge, oder über Anträge auf Familienzusammenführung, ausgehöhlt werden dürfe.

Der EuGH hat in diesem Urteil außerdem erneut ausgeführt, dass für einen Anspruch auf Familienzusammenführung zwar nicht das bloße Verwandtschaftsverhältnis ausreiche, aber auch ein Zusammenleben von Eltern und (volljährigem) Kind nicht erforderlich sei. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jedweder Art seien ausreichend.

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ISSN 2943-2871