Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 29. Juni 2023 (Rs. C-756/21) Art. 4 Abs. 1 der (alten) Qualifikations-Richtlinie 2004/83/EG dahingehend ausgelegt, dass er es den nationalen Asylbehörden vorschreibt, genaue und aktuelle Informationen über alle relevanten Tatsachen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsland einer Asyl und internationalen Schutz beantragenden Person einzuholen. Außerdem verpflichte die Bestimmung diese Behörden dazu, ein rechtsmedizinisches Gutachten über die psychische Gesundheit von Schutzsuchenden einzuholen, wenn Anhaltspunkte für psychische Gesundheitsprobleme vorlägen, die möglicherweise auf ein im Herkunftsland aufgetretenes traumatisierendes Ereignis zurückzuführen seien, und wenn sich die Heranziehung eines solchen Gutachtens als erforderlich oder maßgeblich erweise, um zu beurteilen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedürfe.
Der EuGH hat in seinem Urteil weiter festgehalten, dass eine Verletzung dieser Amtsermittlungspflicht nicht zwingend zur Aufhebung einer ablehnenden behördlichen Entscheidung führen müsse, da dem Schutzsuchenden auferlegt werden könne, nachzuweisen, dass die den Rechtsbehelf zurückweisende Entscheidung anders hätte ausfallen können, wenn die behördliche Pflichtverletzung nicht gegeben wäre. Außerdem könne trotz der Vorgaben in der (alten) Asylverfahrens-Richtlinie 2005/85/EG auch eine überlange Dauer des behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens nicht für sich genommen zur Aufhebung der Entscheidung führen, sofern nicht Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Verzögerung Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt habe. Die Glaubwürdigkeit eines Schutzsuchenden werde schließlich nicht dadurch in Frage gestellt, dass er eine in seinem ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz enthaltene Falschaussage erläutert und zurückgenommen habe, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.
Die Entscheidung ist auf Grundlage eines Vorabentscheidungsersuchens aus Irland ergangen, für das die Richtlinien 2004/83/EG und 2005/85/EG weiterhin in Kraft sind.