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Ausgabe 103 • 7.7.2023

Unfreiwillige Räumung

Die Sommerpause lässt noch auf sich warten und es geht in dieser Woche um die Aberkennung internationalen Schutzes, Menschenrechte in der Türkei und in Italien, Flüchtigsein, rechtliches Gehör, ein falsches Rechtskraftzeugnis, Familiennachzug, eine Abschiebung ohne Ankündigung und um die unfreiwillige Räumung einer Rechtsposition.

Europarechtliche Vorgaben für Aberkennung internationalen Schutzes präzisiert

Der Europäische Gerichtshof hat in drei Urteilen vom 6. Juli 2023 (Rs. C-663/21, Rs. C-8/22 und Rs. C-402/22) klargestellt, welche Anforderungen sich aus Art. 14 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EG für die Aberkennung internationalen Schutzes ergeben.

Danach bestehe zunächst kein Automatismus, nach dem aus einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat stets auch eine Gefahr für die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats folge. Die zuständige Behörde müsse vielmehr separat festgestellt haben, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstelle, in dem er sich aufhalte, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme sei.

Eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der EU-Qualifikationsrichtlinie sei (nur) eine solche Straftat, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweise, als sie zu den Straftaten gehöre, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigten. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweise, seien insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft müsse die zuständige Behörde die vom Betroffenen ausgehende Gefahr gegen die Rechte abwägen, die nach der EU-Qualifikationsrichtlinie den Personen zu gewährleisten seien, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen. Die Behörde müsse jedoch darüber hinaus nicht prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Rückkehr dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Anbetracht des Ausmaßes und der Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiege.

In seinem Urteil in der Rs. C-663/21 hat der EuGH außerdem festgehalten, dass Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.

Der EuGH hat zu seinen drei Urteilen auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Gefährdung von Transsexuellen in der Türkei

Das Verwaltungsgericht Berlin hat in seinem Beschluss vom 16. Juni 2023 (Az. 39 L 244/23 A) die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die abgelehnte Feststellung von Abschiebungsverboten in einem Verfahren angeordnet, in dem es um die Frage einer Gefährdung von Transsexuellen in der Türkei ging. Das VG führte dazu aus, dass bei einer Gesamtbetrachtung der Lage für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen in der Türkei und unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der antragstellenden Person ernstliche Zweifel an der Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bestünden, dass deren Abschiebung in die Türkei keinen Verstoß gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK begründe. Die Türkei gehöre zu den Ländern mit den höchsten Mordraten an Transgender-Personen, Diskriminierung von LGBTI-Personen sei weit verbreitet, auch von institutioneller Seite.

Grundsätzliche Klärung der Situation vulnerabler Schutzberechtigter in Italien

Das Oberverwaltungsgericht Weimar hat in seinem Beschluss vom 31. Mai 2023 (Az. 2 ZKO 355/22) die Berufung in einem Verfahren zugelassen, in dem die Situation anerkannt schutzberechtigter vulnerabler Personen bei einer Überstellung nach Italien im Raum steht. Eine mögliche Verletzung der Rechte dieser Personen aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh sei einer grundsätzlichen Klärung zugänglich. Ergebe sich wie im entschiedenen Verfahren die Vulnerabilität eines Mitglieds eines Familienverbands bereits aus seinem Alter, so handele es sich um eine durch allgemeine Merkmale beschreibbare Personengruppe. Die aufgeworfene Frage, ob vulnerablen Personen, die in Italien bereits internationalen Schutz erhalten haben, bei ihrer Rückkehr dorthin eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung drohe, werde von Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich beantwortet.

Flüchtigsein nach Entfernen von der Unterkunft

An einer kreativen Auslegung der Urteile des Bundesverwaltungsgericht vom 17. August 2021 versucht sich das Verwaltungsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 26. Juni 2023 (Az. Au 8 E 23.50175). Das BVerwG hatte festgehalten, dass ein erfolgloser Dublin-Überstellungsversuch wegen einmaligen Nichtantreffens des Betroffenen an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort und ohne Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit noch nicht die Voraussetzung für ein „Flüchtigsein“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO erfülle. Das VG Augsburg will das nun auf Fallkonstellationen beschränken, in denen Betroffene zur Selbstgestellung aufgefordert wurden, weil das in dem vom BVerwG entschiedenen Verfahren nun einmal so gewesen sei. Bei einer bloßen Mitteilung eines Abschiebungstermins sehe es anders aus und solle die einfache Abwesenheit von der zugewiesenen Unterkunft ausreichen, um Flüchtigsein zu begründen.

So richtig überzeugend ist diese etwas gewollte Differenzierung nun wohl nicht und das VG Augsburg versucht sich nicht einmal an einer Argumentation, warum die Situationen nicht vergleichbar sein sollen. Der europäische Gesetzgeber bessert parallel ohnehin nach und hat im jüngsten Entwurf der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement vom 23. Juni 2023 (Rats-Dokument 10443/1/23) eine Legaldefinition ergänzt. Danach ist flüchtig, wer sich „der Verfügung der zuständigen Behörden oder Justizbehörden aus Gründen entzieht, [..] die nicht außerhalb der Kontrolle der betreffenden Person liegen, wie etwa [..] durch Nichtmitteilung des Fernbleibens von einem bestimmten Unterbringungszentrum oder einem zugewiesenen Gebiet oder Wohnort, wenn dies von einem Mitgliedstaat verlangt wird, oder das Versäumnis, bei den zuständigen Behörden vorstellig zu werden, wenn dies von diesen Behörden verlangt wird [..]“. Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Anfang 2024 abgeschlossen werden.

Berufungszulassung nach Versagung rechtlichen Gehörs

Ein Termin zur mündlichen Verhandlung muss zur Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 227 ZPO von Amts wegen aufgehoben oder verlegt werden, wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers alles in seinen Kräften Stehende und nach Lage der Dinge Erforderliche getan hat, um den Verhandlungstermin rechtzeitig wahrzunehmen, hieran jedoch ohne sein Verschulden gehindert worden ist, meint das Oberverwaltungsgericht Bautzen in seinem Beschluss vom 5. Juni 2023 (Az. 2 A 36/21.A) und hat die Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil zugelassen, in dem diese Grundsätze nicht beachtet wurden. In dem Verfahren hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers in zwei Telefonaten seine verspätete Ankunft infolge eines Staus auf der Autobahn angekündigt, das Verwaltungsgericht hatte den Termin zur mündlichen Verhandlung jedoch nicht verlegt, sondern in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten verhandelt und in der Sache entschieden.

Keine Bindung des Rechtsmittelgerichts durch vorinstanzliches Rechtskraftzeugnis

Die Mitteilung eines Verwaltungsgerichts an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, wonach eine gerichtliche Entscheidung rechtskräftig geworden ist, hat rein formelle Bedeutung und entfaltet keine Bindung der Parteien im Sinne einer rechtskräftigen Feststellung, ob und wann ein Urteil rechtskräftig geworden ist, meint das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 19. Juni 2023 (Az. 4 LA 29/23). Daher könne ein Rechtskraftzeugnis das Rechtsmittelgericht hinsichtlich des Eintritts der Rechtskraft nicht binden und komme es für die Prüfung der Einhaltung der Rechtsmittelfrist durch das zweitinstanzlich zuständige Gericht weder darauf an, dass die Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts ein Rechtskraftzeugnis an das BAMF versandt habe, obwohl keine Rechtskraft eingetreten sei, noch auf das inhaltlich richtige oder unrichtige Datum, das in diesem Zeugnis mitgeteilt worden sei.

Menschenrechtliche Vorgaben für Familiennachzug

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2023 (Az. 13258/18 u.a.) die Verletzung der Rechte anerkannter Flüchtlinge aus Art. 8 EMRK durch die Schweiz festgestellt, weil die zuständigen Behörden bei der Entscheidung über Anträge auf Familiennachzug die von Art. 8 EMRK geschützten Rechtsgüter nicht ausreichend berücksichtigt haben. EMRK-Mitgliedstaaten hätten bei der Entscheidung über Anträge auf Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum in Hinblick auf die Belastung ihrer Sozialsysteme, wenn die Flüchtlinge lediglich aufgrund von selbstgeschaffenen Nachfluchtgründen anerkannt worden seien. Dieser Beurteilungsspielraum sei jedoch deutlich enger als der Beurteilungsspielraum, der den EMRK-Mitgliedstaaten in Bezug auf Wartezeiten für Familiennachzug zu Personen offensteht, die nicht als Flüchtling anerkannt wurden, sondern lediglich subsidiären oder vorübergehenden Schutz erhalten hätten. Der EGMR hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Voraussetzungen einer Abschiebung ohne Ankündigung

In seinem Beschluss vom 23. Juni 2023 (Az. 4 MB 21/23) erläutert das Oberverwaltungsgericht Schleswig ausführlich, wann eine Pflicht zur Ankündigung einer Abschiebung besteht und wie § 59 AufenthG aus Sicht des Gerichts im Detail zu interpretieren ist. Danach gelte die Pflicht zur Ankündigung der Abschiebung nach § 59 Abs. 5 Satz 2 AufenthG nur, wenn zuvor keine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt worden sei, gerade weil sich der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer in Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam (§ 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) befinde. Die Abschiebungshaft sei hiervon nicht erfasst, weil diese ihrerseits bereits voraussetze, dass die Vollstreckungsvoraussetzungen gegeben seien und die Abschiebung vorschriftsgemäß angedroht worden sei. Einer Abschiebung ohne Terminankündigung gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG gehe eine Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung (59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) voraus, allerdings dürfe die Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht gezielt dazu genutzt werden, die Erlangung von Rechtsschutz gegen eine vollziehbar angeordnete Abschiebung zu verhindern, weil in Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten sei, dass der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen könne.

BAMF räumt keine Rechtsposition freiwillig

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge räumt mit der Aufhebung eines Bescheids nach Ablauf einer Dublin-Überstellungsfrist keine zuvor eingenommene Rechtsposition „freiwillig“, sondern reagiert nur „gezwungenermaßen“ auf die inzwischen eingetretene verursachte Änderung der Sachlage, sagt das Verwaltungsgericht Kassel in seinem Beschluss vom 23. Juni 2023 (Az. 7 K 312/23.KS.A). Der Ablauf der Dublin-Überstellungsfrist sei dem BAMF als einer Bundesbehörde nicht zurechenbar, da wegen Art. 30, 70, 84 GG, § 71 AufenthG für den Vollzug der Überstellung eine Länderbehörde zuständig sei. Bundes- und Landesbehörden arbeiteten in diesem Bereich gerade nicht arbeitsteilig zusammen, vielmehr bestehe eine strikte Trennung zwischen Asyl- und Ausländerrecht, zwischen Prüfung und Durchführung der Abschiebung. Diese gesetzgeberische Entscheidung sei auch vor dem Hintergrund des Föderalismus in Deutschland (Art. 30, 70 GG) zu respektieren und nicht entgegen Art. 84 Abs. 3 GG (ausschließlich Rechtsaufsicht) zu konterkarieren. Aus diesem Grund entspreche es dem Rechtsgedanken des § 156 VwGO, die Kosten einer Klage gegen eine Dublin-Überstellung in einem solchen Fall dem Kläger aufzuerlegen.

Der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei von Anfang 2021, der der Bundespolizei mehr Befugnisse bei der Aufenthaltsbeendigung übertragen wollte, ist zwar im Bundesrat gescheitert, gleichwohl ist es aber doch eher Wunschdenken, dass Bundes- und Landesbehörden bei Abschiebungen nicht schon jetzt vielfältig arbeitsteilig zusammenarbeiten, man denke nur an das Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr oder an § 71 Abs. 3 Nr. 1d AufenthG.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext eines weiteren seiner Urteile vom 19. Januar 2023 veröffentlicht, in denen es um die Voraussetzung der Anerkennung als Flüchtling nach Verweigerung des Militärdienstes in Syrien ging, nämlich im Verfahren 1 C 1.22. Das BVerwG hatte zu diesen Urteilen bereits im Januar 2023 eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Kriminalisierung von Geflüchteten in Griechenland

Die am 6. Juli 2023 veröffentlichte Studie Ein rechtsfreier Raum von borderline-europe - Menschenrechte ohne Grenzen e.V. berichtet auf 53 Seiten über systematische Kriminalisierung von Geflüchteten, die in Griechenland für das Steuern eines Bootes oder Autos nach Griechenland in unfairen Strafverfahren zu drakonischen Strafen verurteilt werden.

Übersicht zu aktueller griechischer Asylrechtsprechung

Griechische NGOs haben aktuelle griechische Asylrechtsprechung aus dem ersten Halbjahr 2023 in einem 70-seitigen Asylum Case Law Report (in griechischer Sprache) zusammengefasst und analysiert.