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Ausgabe 105 • 21.7.2023

Unmittelbare Rückwirkung

Es geht in dieser Woche erneut um asylprozessuale Feinheiten, nämlich um Dublin-Überstellungen nach Italien, um eine Klageerhebung trotz vorheriger Rücknahme eines Asylantrags und um die Auswirkungen eines Folgeantrags auf Passbeschaffungspflichten. Außerdem rügt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Belgien und revidiert der Bundesgerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zur Beteiligung von Vertrauenspersonen in Rechtsmittelinstanzen.

Dublin-Überstellung nach Italien kann (abstrakt) durchgeführt werden

An einer vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aktuell getroffenen Prognose, dass im Sinne von § 34a Abs. 1 AsylG feststehe, dass eine Dublin-Überstellung nach Italien durchgeführt werden könne, hat das Verwaltungsgericht Ansbach in seinem Beschluss vom 4. Juli 2023 (Az. AN 14 S 23.50252) nichts auszusetzen. Die Aussage Italiens von Dezember 2022, es müssten vorübergehend Abschiebungen aufgeschoben werden („temporarily suspended“), sei unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens glaubwürdig. Die jetzige Einschätzung des Bundesamts, dass innerhalb überschaubarer Zeit mit einem Wegfall dieses Hindernisses zu rechnen sei, sei daher ebenfalls schlüssig. Hinzu komme, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar sei, dass Italien generell und auf unabsehbare Zeit nicht mehr bereit wäre, am Dublin-System teilzunehmen.

Unzutreffend und damit rechtswidrig sei eine solche Prognose des Bundesamts (nur) dann, wenn das Bundesamt weiterhin von einer Durchführbarkeit der Abschiebung ausgehe, obwohl der ersuchte Mitgliedsstaat ausdrücklich seine fehlende Übernahmebereitschaft erklärt habe oder er zwar nur vorübergehende Gründe für die fehlende Übernahmebereitschaft geltend mache, aber keinerlei Anstrengungen unternehme, diese Probleme in den Griff zu bekommen, obwohl dies sowohl möglich als auch zumutbar wäre. Dass es im Jahr 2023 bislang noch zu keiner Wiederaufnahme von Dublin-Überstellungen nach Italien gekommen sei, sei vor dem Hintergrund auch im Jahr 2023 gestiegener Ankunftszahlen in Italien „nicht verwunderlich“.

Unmittelbare Rückwirkung der Rücknahme eines Asylantrags

Nimmt eine Schutzsuchende ihren Asylantrag zurück, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits über ihn entschieden hat, und erhebt die Schutzsuchende noch nach ihrer Rücknahmeerklärung eine Klage auf Aufhebung des Bescheids des Bundesamts, wird es prozessual interessant. In dem hier vom Oberverwaltungsgericht Greifswald mit Urteil vom 15. Juni 2023 (Az. 4 LB 544/22 OVG) entschiedenen Verfahren hatte nämlich das Bundesamt seinen Bescheid im gerichtlichen Verfahren aufgrund der Rücknahme des Asylantrags teilweise aufgehoben und hatte die Klägerin ihre Klage insofern für erledigt erklärt. Das Verwaltungsgericht hatte in seinem Urteil die teilweise Erledigung des Rechtsstreits festgestellt, das Bundesamt sich der Erledigungserklärung der Klägerin im Berufungsverfahren sodann teilweise angeschlossen.

Alles falsch, meint das OVG Greifswald, weil die Rücknahmeerklärung, die auch noch nach Erlass des Bescheids des Bundesamts abgegeben werde könne, den Asylantrag kraft Gesetzes unmittelbar und mit rückwirkender Wirkung beseitigt und das Asylverfahren damit beendet habe. Der Bescheid des Bundesamts sei damit hinsichtlich des mit dem Asylantrag geäußerten Schutzbegehrens unmittelbar gegenstandslos geworden, so dass es keiner Aufhebungsentscheidung durch das Bundesamt bedurft hätte. Die trotz Rücknahme erhobene Anfechtungsklage sei mangels tauglichen Klagegegenstands von Anfang an unzulässig gewesen, eine Erledigung des Rechtsstreits habe damit ebenso nicht eintreten können.

Folgeanträge sind Asylanträge

Auch Folgeanträge gemäß § 71 AsylG sind Asylanträge im Sinne von § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG, sagt das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 22. Juni 2023 (Az. 2 M 57/23). Solange der den Folgeantrag ablehnende Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge noch nicht bestandkräftig geworden sei, seien deswegen die besonderen gesetzlichen Passbeschaffungspflichten des § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht einschlägig.

Zwar bestehe nach Stellung eines Folgeantrags gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG regelmäßig kein Abschiebungsschutz mehr, sobald das Bundesamt mitgeteilt habe, dass die Voraussetzungen des § 51 VwVfG nicht vorliegen. Die Privilegierung des § 60b Abs. 2 Satz 2 AsylG sei jedoch nicht wegen des mit einem Asylantrag verbundenen Abschiebungsschutzes eingefügt worden, sondern weil einem Asylbewerber eine Kontaktaufnahme mit dem Herkunftsstaat in Form der durch § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgeschriebenen Handlungen bis zum unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens nicht zumutbar sei. Die Gefahr des Missbrauchs der Stellung eines Folgeantrags nach § 71 AsylG sei danach zwar nicht auszuschließen, rechtfertige aber keine den Wortlaut der Regelung missachtende Begrenzung der Privilegierung des § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG auf Erstanträge.

EGMR rügt systematisches Versagen belgischer Behörden

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat belgischen Behörden in seinem Urteil vom 18. Juli 2023 (Az. 49255/22, Camara gegen Belgien) systematisches Versagen vorgeworfen, weil sie in der zweiten Jahreshälfte 2022 nationale Gerichtsurteile, die den belgischen Staat zur Bereitstellung von Wohnraum für Schutzsuchende verpflichtet hatten, nicht umgesetzt hätten. Es habe sich nicht um eine bloße Verzögerung von Seiten der belgischen Behörden gehandelt, sondern um eine klare Weigerung, verbindliche Gerichtsurteile zu befolgen, was gegen Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) verstoßen habe. Der EGMR hat zu dieser Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

BGH schwächt Stellung der Vertrauensperson

Eine Vertrauensperson, die am Haftanordnungsverfahren vor dem Amtsgericht nicht beteiligt war, ist nicht zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss befugt, mit dem die Beschwerde des Betroffenen gegen die Haftanordnung zurückgewiesen wird, meint der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 9. Mai 2023 (Az. XIII ZB 9/20). Soweit der BGH bislang (nämlich noch Anfang 2023) davon ausgegangen sei, dass eine erstmalige Beteiligung der Vertrauensperson im zweiten Rechtszug in gleicher Weise die Rechtsbeschwerdebefugnis begründe wie die Beteiligung im ersten Rechtszug, werde daran nicht festgehalten, weil die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 429 Abs. 2 Nr. 2 FamFG nicht vorlägen.

Der Beschluss ist auch deswegen lesenswert, weil er mit einigen juristischen Spitzfindigkeiten aufwartet, etwa zu der (unbeantwortet gebliebenen) Frage, ob eine Vertrauensperson allein wegen ihrer Nennung im Rubrum einer Beschwerdeentscheidung als beteiligt im Sinne von § 429 Abs. 2 Nr. 2 FamFG gilt, und sich zudem in Mutmaßungen über fiktive Motivlagen des Gesetzgebers ergeht.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat weitere Volltexte einiger seiner Urteile vom 19. Januar 2023 (Az. 1 C 34.21, 1 C 36.21, 1 C 37.21, 1 C 46.21, 1 C 48.21, 1 C 50.21, 1 C 58.21) veröffentlicht, in denen es um die Voraussetzung der Anerkennung als Flüchtling nach Verweigerung des Militärdienstes in Syrien ging. Das BVerwG hatte zu diesen Urteilen bereits im Januar 2023 eine Pressemitteilung veröffentlicht.