In seinem Urteil vom 8. Mai 2025 (Rs. C-662/23) stellt der Europäische Gerichtshof klar, wie viel Zeit sich nationale Asylbehörden bei der Entscheidung über Asylanträge lassen dürfen, nämlich regelmäßig sechs Monate, und wann diese Frist verlängert werden kann, nämlich seltener als es bislang in der Praxis häufig der Fall sein dürfte.
In dem Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der EU-Asylverfahrensrichtlinie, der eine Verlängerung der behördlichen Entscheidungsfrist um neun Monate (d.h. auf 15 Monate) erlaubt, wenn „eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist von sechs Monaten abzuschließen“. Diese Vorschrift, so der Gerichtshof, sei restriktiv auszulegen und erlaube eine Verlängerung nur, wenn die Zahl der Asylanträge innerhalb eines kurzen Zeitraums angestiegen sei.
Dagegen rechtfertigten weder ein allmählicher Anstieg der Zahl der Anträge über einen langen Zeitraum noch praktische Schwierigkeiten wie eine große Menge nicht bearbeiteter Anträge oder eine unzureichende Zahl von Personal der nationalen Asylbehörde eine Verlängerung der Entscheidungsfristen. Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie müssten nationale Asylbehörden über kompetentes Personal in ausreichender Zahl verfügen und könne der kurze Zeitraum, der in Art. 31 der Richtlinie genannt werde, nicht länger sein als der Zeitraum, den die Behörde benötige, um Personal einzustellen und auszubilden, das für die angemessene und vollständige Bearbeitung der eingegangenen Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei.
Da Art. 31 Abs. 3 der EU-Asylverfahrensrichtlinie weitgehend identisch mit § 24 Abs. 4 AsylG ist, wird die Entscheidung Auswirkungen auf die Entscheidungspraxis des Bundesamts haben müssen und die Qualität der Entscheidungen über Asylanträge vielleicht nicht zum Besseren beeinflussen. Gerichtsentscheidungen wie etwa die des Verwaltungsgerichts Düsseldorf im Februar 2024 (siehe HRRF-Newsletter Nr. 134), wonach Antragsteller mit einer Bescheidung ihrer Asylanträge im Regelfall nur innerhalb von 15 Monaten rechnen dürfen, kann es ab jetzt nicht mehr so einfach geben, und Bescheidungs- wie Untätigkeitsklagen (zum Unterschied siehe etwa das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juli 2018, Az. 1 C 18.17) können ab jetzt häufig früher erhoben werden.
Das Verwaltungsgericht Stade geht in seinem Urteil vom 18. Dezember 2024 (Az. 2 A 1474/22) davon aus, dass Yeziden in der irakischen Region Shingal verfolgt werden und ihnen deswegen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Der IS sei nicht sicher besiegt und es bestünden in der Region auch im Übrigen keine ausreichenden Sicherheitsstrukturen, die verhindern könnten, dass Yeziden im Konflikt zwischen Kurden und Arabern zwischen die Fronten geraten könnten. Ein besonnener und vernünftiger Mensch würde als Yezide darum von einer Rückkehr in die Region Shingal absehen; eine inländische Fluchtalternative gebe es nicht, weil Yeziden im Irak ausgegrenzt würden und die humanitären Bedingungen in den Lagern für yezidische Binnenvertriebene das Existenzminimum nicht gewährleisteten.
Das Verwaltungsgericht nimmt in seinem Urteil nicht nur zur Situation von Yeziden im Irak Stellung (die in der deutschen Rechtsprechung durchaus auch ganz anders gesehen wird, siehe etwa den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Magdeburg aus dem März 2025, über den im HRRF-Newsletter Nr. 190 berichtet wurde), sondern beschäftigt sich außerdem ausführlich und lesenswert mit den Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 18. Juni 2024 (Rs. C-753/22) zur Bindungswirkung einer ausländischen Schutzgewährung innerhalb der Europäischen Union (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 150), die in der deutschen Rechtsprechung bislang eher beiläufig thematisiert wurden, etwa zur Frage, unter welchen Umständen die Beiziehung ausländischer Verfahrensakten ausnahmsweise unterbleiben darf, und dazu, wie Widersprüche zwischen divergierenden nationalen Asylentscheidungen aufgelöst werden müssen, nämlich im Sinne einer „qualifizierten Auseinandersetzung“. Das Verwaltungsgericht kommt zu der klaren Aussage (S. 7 des Urteils), dass immer dann, wenn zwei EU-Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Asylanträge ein und derselben Person zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, eine dieser Entscheidungen notwendigerweise rechtswidrig (geworden) sein muss. Das ist in dieser Generalität wohl so nicht richtig, wie das Verwaltungsgericht indirekt auch selbst einräumt (S. 8 des Urteils).
Anders als andere Gerichte hält das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 25. April 2025 (Az. 8 L 1143/24) einen Anspruch auf eine Verfahrensduldung im Verfahren zur Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis schon dann für gegeben, wenn die Voraussetzungen für ein Chancen-Aufenthaltsrecht überhaupt irgendwann einmal zeitgleich vorgelegen haben. Es sei gerade nicht erforderlich, dass ein Ausländer zusätzlich aus einem sonstigen Grund zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geduldet sei oder aus einem sonstigen Grund eine Verfahrensduldung beanspruchen könne, und es sei außerdem eine weitere Ausnahme vom Erfordernis des gleichzeitigen Vorliegens aller Erteilungsvoraussetzungen für den Fall zu machen, dass eine Ausländerbehörde das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung erst spät im Verfahren anfordere. Ohnehin habe ein Ausländer bereits immer dann einen Duldungsanspruch, wenn die Ausländerbehörde seine Abschiebung nicht aktiv betreibe, was sich auch aus der EU-Rückführungsrichtlinie ergebe.
Man kann gelegentlich zwischen den Zeilen lesen, wenn ein Gericht schlechte Laune hat, und dieser Beschluss ist nicht nur ein schönes Beispiel für schlechte Laune, sondern auch sonst in zweierlei Hinsicht spannend. Zum einen in seiner Opposition u.a. zur Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster, was den Anspruch auf eine Verfahrensduldung während des Verfahrens zur Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis betrifft, zum anderen wegen der deutlichen Aussagen zum Duldungsanspruch, wenn eine Ausländerbehörde die Abschiebung nicht aktiv betreibt. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hat zur selben Frage unlängst nicht zu solch klaren Worten gefunden (siehe HRRF-Newsletter Nr. 194).
Das Verwaltungsgericht Berlin hat Medienberichten zufolge (siehe hier und hier) mit Beschluss vom 6. Mai 2025 (Az. 21 L 157/25) in einem Eilverfahren erneut den Entzug von EU-Freizügigkeitsrechten gestoppt, den das zuständige Landesamt für Einwanderung wegen der Teilnahme der betroffenen irischen Staatsangehörigen an pro-palästinensischen Protesten und einer daraus abgeleiteten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erreichen wollte.
Das Berliner Landesamt hat der in diesem Verfahren betroffenen EU-Ausländerin offenbar unter anderem vorgeworfen, „wider der Staatsräson“ gehandelt zu haben. Wenn der Behörde keine besseren Argumente als so ein Verweis auf einen jedenfalls rechtlich inhaltsleeren Begriff eingefallen sind, dann dürfte der Bescheid der Behörde wohl auch in der Hauptsache keinen Bestand haben. Siehe zu den Hintergründen der Verfahren die HRRF-Newsletter Nr. 192 und Nr. 193.
Das Amtsgericht Berlin Tiergarten geht in seinem Beschluss vom 31. März 2025 (Az. 385 XIV 28/25 B) davon aus, dass die Unterbringung von Abschiebungshäftlingen im Bereich der Sicherungsverwahrung der Berliner JVA Tegel nicht dem unions- und nationalrechtlichen Abstandsgebot zum Strafvollzug entspricht, sondern rechtswidrig ist. Der Grad der konkreten Freiheitseinschränkungen übersteige das zur Sicherung des Abschiebungsverfahrens erforderliche Maß erheblich, etwa weil Inhaftierte ihre Zellen nur für zwei Stunden pro Tag verlassen könnten, von allen Sport- und Sozialangeboten ausgenommen seien und Hofgang ebenfalls nicht stattfinde. Bei Besuchen sei jeder körperliche Kontakt untersagt und werde jeder mitgebrachte Gegenstand nach den Sicherheitsmaßstäben der Sicherungsverwahrung kontrolliert. Es lägen zahlreiche strukturelle Mängel vor, die gegen die aus § 62a AufenthG folgenden Vorgaben verstießen, und es gebe zahlreiche Einschränkungen in die Freiheit des Betroffenen, die nicht erforderlich seien, um ein sicheres Rückführungsverfahren zu gewährleisten, sondern die nur dazu dienten, den reibungslosen Betrieb der Sicherungsverwahrung aufrecht zu erhalten.
Das Amtsgericht zitiert zu Recht den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. März 2024 (Az. XIII ZB 85/22) (siehe HRRF-Newsletter Nr. 148), wo bereits ein Hafteinschluss von 14 Stunden pro Tag als rechtswidrig angesehen wurde, wohingegen in Berlin 22 Stunden pro Tag eingeschlossen wird. So sonderlich neu ist die Rechtsprechung des Amtsgerichts auch nicht, weil es bereits im Juni 2024 ähnlich entschieden hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 152). Interessant ist dabei, dass das Amtsgericht offenbar bei seiner Linie bleibt, obwohl das Landgericht Berlin noch im August 2024 anderer Ansicht war und den gemeinsamen Haftvollzug in der JVA Tegel für zulässig gehalten hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 164), und interessant ist außerdem, dass dieser Beschluss des Landgerichts inzwischen in der Rechtsprechungsdatenbank des Landes Berlin nicht mehr auffindbar ist.