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Ausgabe 28 • 14.1.2022

Fantasiepapiere

Diese Woche bringt Entscheidungen zum menschenrechtlichen Schutz vor willkürlicher Nichtanerkennung einer Staatsangehörigkeit, zu zwei innovativen Versuchen, die Zulassung einer asylgerichtlichen Berufung zu erreichen und zur Rechtsnatur einer „Bescheinigung über den vorübergehenden Aufenthalt ohne amtliches Aufenthaltsdokument“. Außerdem geht es um das Verhältnis des Asylgesetzes zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, um die Anforderungen bei der Beantragung von Aufenthaltstiteln nach bewusster Täuschung und um die Anforderungen an die Beschwerdebegründung in aufenthaltsrechtlichen Eilverfahren. Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht gibt es auch noch.

Willkürliches Vorenthalten einer Identitätskarte verstößt gegen Art. 8 EMRK

Mit Urteil vom 13. Januar 2022 (Az. 1480/16 u.a., Hashemi u.a. gg. Aserbaidschan) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Auslegung und Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über die Ausstellung von Identitätskarten durch Verwaltungsbehörden und Gerichte in Aserbaidschan willkürlich gewesen sei und das Recht der Antragsteller aus Art. 8 EMRK verletzt habe. Die Antragsteller, in Aserbaidschan geborene Kinder von Flüchtlingen aus Afghanistan und Pakistan, seien nach dem anwendbaren aserbaidschanischem Recht Staatsangehörige Aserbaidschans geworden und hätten Anspruch auf Ausstellung einer Identitätskarte gehabt, so der EGMR; das Vorenthalten einer solchen Karte sei einer Weigerung vergleichbar, ihre Staatsangehörigkeit anzuerkennen, und sei willkürlich erfolgt.

§ 77 Abs. 2 AsylG mit höherrangigem Recht vereinbar

Rechtsvorschriften, die wie § 77 Abs. 2 AsylG einem Verwaltungsgericht Bezugnahmen auf vorausgegangene Entscheidungen ermöglichen, etwa auf einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, sind grundsätzlich mit höherrangigem Recht vereinbar, so das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Beschluss vom 10. Januar 2022 (Az. 1 A 361/21.A). Sie dienten der Entlastung des Verwaltungsgerichts von Formulierungs- und Schreibarbeit bei der Begründung seiner Entscheidungen in den Fällen, in denen dieser Zweck ohne Nachteile für den Rechtsschutz des Bürgers erreicht werden könne. Es sei nicht ersichtlich, dass es zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bei der Bekanntgabe des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge einer Belehrung bedürfe, dass das Verwaltungsgericht im nachfolgenden Urteil nach § 77 Abs. 2 AsylG unter anderem dann von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen könne, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folge und dies in seiner Entscheidung feststelle. Der Versuch des Prozessbevollmächtigten des Klägers in diesem Verfahren, die Zulassung der Berufung durch das Aufwerfen der Frage einer möglichen Verfassungswidrigkeit von § 77 Abs. 2 AsylG zu erreichen, war vielleicht von vornherein etwas gewagt.

Nach Übertragung auf den Einzelrichter keine konkludente Rückübertragung an die Kammer

Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 (Az. 6 A 660/20.A) festgehalten, dass nach Übertragung eines Asylstreitverfahrens auf den erstinstanzlichen Einzelrichter keine konkludente Rückübertragung des Verfahrens an die Kammer eines Verwaltungsgerichts stattfinden könne. Insbesondere lebe die Zuständigkeit der Kammer auch bei Ausscheiden des zuständigen Einzelrichters nicht wieder auf, stattdessen sei nach der kammerinternen Geschäftsverteilung ein neuer Einzelrichter zu bestimmen. Die gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG erhobene Besetzungsrüge, weil das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt worden sei, war dementsprechend erfolglos.

Rechtswidrige Bescheinigung über den vorübergehenden Aufenthalt

Ein vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer sei entweder unverzüglich abzuschieben oder nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu dulden, so das Oberverwaltungsgericht Bautzen in seinem Urteil vom 9. Dezember 2021 (Az. 3 A 386/20), daher sei es offensichtlich rechtswidrig, einen Ausländer über einen längeren Zeitraum in einem ungeregelten Aufenthalt, im entschiedenen Verfahren über zweieinhalb Jahre, in Deutschland zu belassen. Die einem Ausländer dabei ausgestellte „Bescheinigung über den vorübergehenden Aufenthalt ohne amtliches Aufenthaltsdokument“ sei mangels Rechtsbindungswillens der Behörde keine Duldung, auch nicht dann, wenn sie in rechtswidriger Weise einen Hinweis enthalte, wonach die Erwerbstätigkeit gestattet sei, solange sich nicht aus den Gesamtumständen für einen verständigen Empfänger ergebe, dass die „Bescheinigung“ nur eine unschädliche Falschbezeichnung darstellte und die Behörde tatsächlich eine Duldung hätte erteilen wollen. Die Fehler der Behörde in diesem Verfahren und die Ausstellung eines „Fantasiepapiers“ halfen dem Kläger im Ergebnis nicht, weil er nicht zumindest die Voraussetzungen für die Erteilung einer Verfahrensduldung erfüllte.

Beschwerdeausschluss nach § 80 AsylG wird nicht durch § 1 Abs. 3 RVG verdrängt

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 (Az. 9 S 3141/20) wird der Beschwerdeausschluss gemäß § 80 AsylG durch die Regelung des § 1 Abs. 3 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes nicht verdrängt. § 1 Abs. 3 RVG begründe zwar einen Vorrang der verfahrensrechtlichen Bestimmungen des RVG über die Erinnerung und die Beschwerde gegenüber den Verfahrensvorschriften in den allgemeinen Verfahrensordnungen der einzelnen Gerichtszweige, bei Einführung des § 80 AsylG habe es jedoch dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entsprochen, dass der Rechtsmittelausschluss dieser Ausnahmevorschrift weit und umfassend zu verstehen sei und daher auch sämtliche Nebenentscheidungen einschließlich Kostenangelegenheiten davon erfasst sein sollten. Es sei angemerkt, dass dies jedenfalls vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 19. September 2019, Az. 3 L 112.19) und vom Verwaltungsgerichtshof Kassel (Beschluss vom 7. August 2019, Az. 4 E 1311/19.A) anders gesehen wird.

Erhöhte Anforderungen bei Beantragung von Aufenthaltstitel nach bewusster Täuschung

Hat ein Ausländer in der Vergangenheit bewusst über seine Identität getäuscht, so das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 5. Januar 2022 (Az. 3 M 131/20), bedürfe es bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels in besonderem Maße nachvollziehbarer und schlüssiger Angaben, um die Überzeugung zu vermitteln, dass die nunmehr genannten Identitätsmerkmale richtig seien. Dabei könne die Richtigkeit der in einem Pass angegebenen Identitätsdaten dadurch in Frage gestellt werden, dass sie mit Informationen über den Kläger, die sich aus seinem Aufenthalt im Bundesgebiet in der Vergangenheit ergeben, nicht in Übereinstimmung zu bringen seien. Im entschiedenen Verfahren wäre der Kläger nach dem im Pass enthaltenen Angaben bei Asylantragstellung in Deutschland jünger als zehn Jahre alt gewesen; dem OVG erschloss sich nicht, warum dieser Umstand weder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch dem damaligen Rechtsanwalt des Klägers aufgefallen sein solle.

Anforderungen an die Beschwerdebegründung in aufenthaltsrechtlichen Eilverfahren

Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat in zwei Beschlüssen vom 26. November 2021 (Az. 3 B 349/21) und vom 10. Januar 2022 (Az. 3 B 412/21) an die aus § 146 Abs. 4 VwGO folgenden Anforderungen an die Begründung von Beschwerden in aufenthaltsrechtlichen Eilverfahren erinnert. Danach müsse die Begründung darlegen oder zumindest erkennen lassen, aus welchen rechtlichen und tatsächlichen Gründen der erstinstanzliche Beschluss unrichtig sein soll und geändert werden müsse, was eine Prüfung, Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs und damit eine sachliche Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses erfordere. Hierfür reiche eine bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens ohne Eingehen auf die jeweils tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts, außer in Fällen des Offenlassens des früheren Vortrags, grundsätzlich ebenso wenig aus wie bloße pauschale oder formelhafte Rügen ausreichend seien.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat in vier weiteren Verfahren (Beschlüsse vom 23. November 2021, Az. 1 B 58.21, 1 B 59.21 und 1 B 64.21 und vom 7. Dezember 2021, Az. 1 B 77.21) die Revision zur Klärung der Frage zugelassen, welche Anforderungen an die Annahme einer „starken Vermutung“ für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem der in Art. 10 der Qualifikations-Richtlinie 2011/95/EU genannten Verfolgungsgründe, sowie deren Widerlegung, zu stellen sind. Mit jetzt veröffentlichtem Beschluss vom 19. Oktober 2021 (Az. 1 C 5.21) hat das BVerwG ein Verfahren, in dem es um die Rechtmäßigkeit eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ging, wegen Erledigung der Hauptsache eingestellt.