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Ausgabe 29 • 21.1.2022

Strukturelles Organisationsdefizit

Es geht in dieser Woche um ein nicht existierendes strukturelles Organisationsdefizit, einen Ausnahmezustand, das sogenannte Diskretionsgebot und um die Berücksichtigung nichtstaatlicher Hilfs- und Unterstützungsleistungen in Herkunftsländern, außerdem um die Ablehnung von Beweisanträgen, das Nichterledigen von Abschiebungsandrohungen und das Betreiben von Abschiebungen.

Polnische Verordnung über Ausnahmezustand an Grenze rechtswidrig

Das Oberste Gericht Polens hat am 18. Januar 2022 entschieden, dass die strafrechtliche Verurteilung von drei Journalistinnen und Journalisten, die im September 2021 im polnischen Grenzgebiet zu Belarus aufgegriffen wurden und denen der unerlaubte Aufenthalt in dem aufgrund der Verhängung des Ausnahmezustands gesperrten Grenzgebiet vorgeworfen wurde, rechtswidrig war, und die Betroffenen freigesprochen. Die Rechtsverordnung des polnischen Ministerrats vom 2. September 2021, die Grundlage für die Verhängung des Ausnahmezustands in der Grenzregion zu Belarus und für die Verurteilung der Betroffenen war, überschreite die Grenzen der vorhandenen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen und sei überdies unverhältnismäßig. Die Entscheidung kann in ihrem (polnischen) Wortlaut hier abgerufen werden.

Kein Visum ohne persönliche Botschaftsvorsprache

Ausländer, die ein Visum zur Einreise nach Deutschland begehren, müssen zur Klärung der Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung persönlich vorsprechen, so jedenfalls das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss vom 11. Januar 2022 (Az. VG 21 L 640/21 V), über den das Gericht in einer Pressemitteilung berichtet. Die Entscheidung über eine Visumerteilung setze grundsätzlich eine vorherige persönliche Vorsprache der jeweiligen Antragsteller voraus, um die erforderlichen Erkenntnisse insbesondere über deren Identität zu gewinnen. Dass das Gericht auch eine lange Wartezeit der afghanischen Kläger seit ihrer Registrierung auf der Terminwarteliste, im entschiedenen Verfahren immerhin seit Ende 2019, für nicht ausreichend hält, um eine Ausnahme zuzulassen, weil die Wartezeit auf „Kapazitätsengpässen der Auslandsvertretung“, nicht aber auf einem „strukturellen Organisationsdefizit“ beruhe, erscheint dann doch etwas fragwürdig.

Kein Diskretionsgebot für LSBTI-Asylsuchende

Das Verwaltungsgericht Leipzig hat mit Urteil vom 18. November 2021 (Az. 3 K 1759/20.A) entschieden, dass eine diskrete Lebensweise homosexueller Asylsuchender in Deutschland nicht als Grundlage für eine Prognose genommen werden dürfe, um die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr ins Herkunftsland zu beurteilen. Es dürfe, so das Gericht, von Betroffenen nicht erwartet werden, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität sei, diese Entscheidung sei vielmehr eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen sei. Die Entscheidung ist auch deshalb lesenswert, weil sie einen sinnverändernden Übersetzungsfehler in der ursprünglichen deutschen Fassung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 7. November 2013 (Az. C-199/12 bis C-201/12) thematisiert.

Berücksichtigung nichtstaatlicher Hilfs- und Unterstützungsleistungen bei Prognose der Lebensverhältnisse

Mit jetzt veröffentlichtem Urteil vom 7. September 2021 (Az. 1 C 3.21) hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass bei der Prognose, ob international Schutzberechtigte im Mitgliedstaat der Zuerkennung einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein werden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren, weil sie unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not leben müssten, die Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfeorganisationen berücksichtigt werden müssen: Könne durch die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen einer extremen individuellen Notlage hinreichend begegnet werden, drohe keine Situation extremer materieller Not. Der BAMF-Entscheiderbrief hatte bereits im November 2021 über dieses Urteil berichtet.

Erforderliche Begründung bei der Ablehnung von Beweisanträgen

Die Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags in der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des Antragstellers verletze grundsätzlich nicht sein Recht auf rechtliches Gehör, wenn er nach Stellung der Beweisanträge im ersten Termin zu dem Fortsetzungstermin nicht erscheine, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 12. Januar 2022 (Az. 10 LA 175/21). In der Entscheidung geht es außerdem um die Anforderungen an Beweisanträge, die hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung gestellt werden.

Abschiebungsandrohung erledigt sich nicht durch Abschiebung

Die mit einer Ausweisung und einem Einreise- und Aufenthaltsverbot einhergehende Abschiebungsandrohung erledige sich durch die Abschiebung des Ausländers nicht, weil sie jedenfalls noch die Rechtswirkung entfalte, zusammen mit der Ausweisung die Grundlage für die Aufrechterhaltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu bilden, so das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Beschluss vom 4. Januar 2022 (Az. 2 LB 383/21). Dies gelte auch, wenn das Bundesamt später anlässlich der Ablehnung eines Asylantrags eine neue Abschiebungsandrohung erlasse. Die Entscheidung ist lesenswert, auch weil sie Ausführungen zur Konkurrenz mehrerer Abschiebungsandrohungen und zur Auslegung von Art. 3 der EU-Rückführungsrichtlinie enthält.

Betreiben der Abschiebung ist für einstweiligen Rechtsschutz irrelevant

Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat in seinem Beschluss vom 3. Januar 2022 (Az. 4 MB 68/21) entschieden, dass es für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO zwecks Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes regelmäßig nicht darauf ankomme, ob die Ausländerbehörde die Abschiebung tatsächlich betreibe. Die Sicherung eines Anspruches auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch Erlass einer einstweiligen Anordnung komme außerdem ausnahmsweise in Betracht, wenn die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechterhalten werden sollen, um sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen könne, dies gelte auch für einen Anspruch nach § 25 Abs. 5 AufenthG.