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Ausgabe 35 • 4.3.2022

Veränderte Umstände

Die Woche bringt eine Reihe von eher disparaten Entscheidungen. Hervorzuheben ist vielleicht das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts, das zwar im Wortlaut noch nicht vorliegt, aber gleichwohl mit der gerade bayerischen Praxis der Strafverfolgung bei Gewährung von Kirchenasyl ein Stück weit aufräumt.

Freispruch in Strafverfahren um Kirchenasyl

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat einen Mönch, der in seiner Abtei Kirchenasyl gewährt hatte und deshalb wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt angeklagt war, am 25. Februar 2022 auch im Revisionsverfahren freigesprochen (Az. 1 Cs 882 Js 16548/20). Das Gericht verneinte Pressemitteilungen zufolge bereits die Strafbarkeit des Verhalten des Mönchs, während das erstinstanzlich befasste Gericht noch einen Entschuldigungsgrund bemüht hatte. Nach Ansicht des BayObLG habe der Mönch sich nicht strafbar gemacht, weil er dem Flüchtling zu einem Zeitpunkt Kirchenasyl gewährt hatte, als sich dieser noch legal in Deutschland aufhielt, und sei er nicht dazu verpflichtet gewesen, das Kirchenasyl später aktiv zu beenden.

EU-Rückführungsrichtlinie verbietet Geldbuße nicht

Mit Urteil vom 3. März 2022 (Rs. C-409/20) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG einer nationalen Regelung, die den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zunächst mit einer Geldbuße ahndet, im Prinzip nicht entgegensteht. Der EuGH verweist im Wesentlichen auf seine bisherige Rechtsprechung, in der er auch bereits 2015 über die Europarechtskonformität der hier streitgegenständlichen Vorschrift des spanischen Rechts zu entscheiden hatte. Das damals vorlegende Gericht hatte diese Vorschrift anders geschildert als das nun vorliegende Gericht, was den EuGH immerhin zu einer kurzen Bemerkung über solche Interpretationsunterschiede in Vorabentscheidungsverfahren bewegt hat.

EuGH zu Palästina-Flüchtlingen

In seinem Urteil vom 3. März 2022 (Rs. C-349/20) äußert der Europäische Gerichtshof sich zur Anwendbarkeit der (alten) EU-Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG auf Palästinaflüchtlinge. Danach sei Art. 12 Abs. 1 Buchst. a S. 2 der EU-Qualifikationsrichtlinie so auszulegen, dass als maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung, ob Schutz oder Beistand durch das UNRWA nicht länger gewährt wird, auch der Zeitpunkt zu berücksichtigen sei, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung entscheiden, dabei komme es nicht darauf an, ob das UNRWA oder der Staat, in dem es tätig ist, die Absicht hatte, dieser Person durch Tun oder Unterlassen Schaden zuzufügen oder ihr den Beistand zu entziehen. Es sei allerdings der Beistand zu berücksichtigen, der dieser Person von Akteuren der Zivilgesellschaft, wie etwa Nichtregierungsorganisationen, gewährt werde, sofern das UNRWA mit ihnen eine dauerhafte formelle Kooperationsbeziehung unterhalte, in deren Rahmen es von ihnen bei der Erfüllung seines Mandats unterstützt werde. War eine Person gezwungen, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, obliege dem Mitgliedstaat die Beweislast für die Behauptung, dass die Person nunmehr in dieses Gebiet zurückkehren könne.

Zeugen Jehovas werden in Russland verfolgt

In einer Pressemitteilung vom 28. Februar 2022 berichtet der Verwaltungsgerichtshof München über sein Urteil vom 9. November 2021 (Az. 11 B 19.33187), in dem er das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dazu verpflichtet hat, zwei russische Staatsangehörige wegen ihrer Religionsausübung als Zeugen Jehovas als Asylberechtigte anzuerkennen. Ihnen drohe in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine staatliche Verfolgung. Das Oberste Gericht der Russischen Föderation habe die Zeugen Jehovas im Jahr 2017 als extremistische Gruppe eingestuft und ihnen sämtliche Aktivitäten verboten. Seitdem könne die Ausübung des Glaubens sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Dies stelle eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit dar, weil es die Möglichkeit öffentlicher Zusammenkünfte und sonstiger Glaubensbetätigung weitgehend unterbinde.

Veränderte Umstände in Eilverfahren nach höchstrichterlicher Klärung

Veränderte Umstände im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO können auch bei einer nach einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgten Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der erstmaligen höchstrichterlichen Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage vorliegen, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 24. Februar 2022 (Az. 4 MC 11/22). In dem Verfahren ging es um die kostenrechtlichen Auswirkungen der Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2020.

Anforderungen an qualifizierte Beschäftigung in § 19d AufenthG

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c AufenthG setze nicht voraus, dass der Geduldete über eine inländische qualifizierte Berufsausbildung oder gleichwertige ausländische Berufsausbildung verfüge; ausreichend sei vielmehr, dass er auf der Grundlage der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen tatsächlich eine qualifizierte Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 12b AufenthG ausgeübt habe, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 22. Februar 2022 (Az. 13 LA 10/22).

Inhaftierung einer Familie mit jungen Kindern ohne echte Einzelfallprüfung unverhältnismäßig

In seinem Urteil vom 3. März 2022 (14743/17, Nikoghosyan u.a. gg. Polen) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine ohne echte Einzelfallprüfung erfolgte Inhaftierung einer Familie mit jungen Kindern über einen Zeitraum von fast sechs Monaten für unverhältnismäßig und mit Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit) unvereinbar gehalten. Eine Freiheitsentziehung einer Familie mit jungen Kindern könne zwar mit der EMRK vereinbar sein, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Behörden nachweisen könnten, dass sie diese Maßnahme als letztes Mittel ergriffen haben. Die Behörden müssten vorher tatsächlich geprüft haben, dass keine andere weniger freiheitsbeschränkende Maßnahme ergriffen werden konnte, und müssten mit der erforderlichen Eile gehandelt haben. Diese Voraussetzungen, so der EGMR, seien im vorliegenden Verfahren nicht erfüllt, weil lediglich darauf abgestellt worden sei, dass die Antragsteller vermögenslos und ohne festen Wohnsitz im Polen seien.

Verfahren zur Bedeutung von Art. 13 GG bei Abschiebungen anhängig

Mit Beschluss vom 21. Februar 2022 (Az. 3 N 196/21) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren zugelassen, in dem es um die Frage geht, ob § 58 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Lichte des Art. 13 GG dahingehend auszulegen ist, dass für ein Betreten von Wohnungen zum Ergreifen einer abzuschiebenden Person ein richterlicher Beschluss für eine Durchsuchung erforderlich ist, wenn die Behörde in einer ex-ante-Betrachtung von der Notwendigkeit, Suchhandlungen vorzunehmen ausgehen oder zumindest mit solchen ernstlich rechnen muss. Das Verwaltungsgericht hatte in seinem Urteil die Rechtswidrigkeit des Betretens und Durchsuchens des Zimmers festgestellt, weil es sich um eine Wohnungsdurchsuchung gehandelt habe, für die entgegen § 58 Abs. 8 AufenthG keine richterliche Anordnung vorgelegen habe.

Elektronischer Rechtsverkehr auch im Asylrecht

Der Verwaltungsgerichtshof München weist in seinem Beschluss vom 24. Februar 2022 (Az. 15 ZB 22.30186) darauf hin, dass seit dem 1. Januar 2022 der elektronische Rechtsverkehr auch im Asylrecht Einzug gehalten hat. Anwaltlich vertretene Klägerinnen und Kläger müssen gemäß § 55d VwGO auf elektronischem Wege mit den Verwaltungsgerichten kommunizieren. Die Kommunikation per Telefax, wie im vorliegenden Verfahren, ist schlicht unzulässig und unwirksam.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat in vier weiteren Verfahren (Beschlüsse vom 7. Dezember 2021, Az. 1 B 71.21, 1 B 74.21, 1 B 78.21, Beschluss vom 11. Januar 2022, Az. 1 B 81.21) die Revision zur Klärung der Frage zugelassen, welche Anforderungen an die Annahme einer „starken Vermutung“ für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem der in Art. 10 der Qualifikations-Richtlinie 2011/95/EU genannten Verfolgungsgründe, sowie deren Widerlegung, zu stellen sind. In zwei Verfahren, in denen es ebenfalls um die Relevanz von Wehrdienstentziehung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ging, hat das BVerwG mit Beschlüssen vom 22. Dezember 2021 (Az. 1 B 70.21) und vom 4. Januar 2022 (Az. 1 B 40.21) Nichtzulassungsbeschwerden zurückgewiesen.