Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 21. Juni 2022 (Akkad gg. Türkei, Az. 1557/19) entschieden, dass die Türkei 2018 durch die Abschiebung eines syrischen Flüchtlings nach Syrien gegen Artt. 3, 5 und 13 EMRK verstoßen habe. Der Beschwerdeführer, der seit 2014 als Flüchtling in der Türkei lebte, hatte im Sommer 2018 versucht, nach Griechenland zu gelangen, war aber kurz vor dem Grenzübertritt von türkischen Behörden aufgegriffen und zwei Tage später nach Syrien abgeschoben worden, ohne dass er gegen diese Rückführungsentscheidung wirksame Rechtsmittel einlegen konnte. Dabei hätten die türkischen Behörden dem Beschwerdeführer ein Formular vorgelegt, womit er seiner freiwilligen Rückkehr nach Syrien zustimme und das er in Unkenntnis seines Inhalts unterzeichnet habe. Der EGMR hat zu dieser Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Das Verwaltungsgericht Aachen will § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG, wonach das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch für im Ausland anerkannte Flüchtlinge gilt, in seinem Urteil vom 3. Juni 2022 (Az. 10 K 2844/20.A) in Drittstaatenfällen nicht anwenden, in denen Asylantragsteller bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt wurden und danach in Deutschland einen weiteren Asylantrag gestellt haben. Erfolge in solchen Fällen eine inhaltliche Prüfung des in Deutschland gestellten Asylantrags, würden die Regelungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und des § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG durchbrochen, um die Wahrung der Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten. Damit sei es nicht vereinbar, § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG weiterhin anzuwenden, weil alle diese Vorschriften in einem „untrennbaren Zusammenhang“ stünden und auf derselben Prämisse beruhten.
In zwei Urteilen vom 8. März 2022 (Az. 6 K 1405/18 We) und vom 7. April 2022 (Az. 6 K 1113/19 We) hat das Verwaltungsgericht Weimar entschieden, dass Asylanträge von Familien mit Kindern, denen zuvor in Rumänien internationaler Schutz zuerkannt wurde, derzeit nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden dürfen, weil davon auszugehen sei, dass solchen Personen vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die ernsthafte Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK drohe. Die Urteile setzen sich ausführlich mit der Situation von Schutzberechtigten in Rumänien auseinander.
Das Verwaltungsgericht Magdeburg wendet in seinem Urteil vom 9. Mai 2022 (Az. 3 A 5/21 MD) Art. 10 der Dublin-III-Verordnung vielleicht nicht lehrbuchmäßig, aber im Ergebnis richtig an, wodurch es zur Zuständigkeit Deutschlands für eine Familie aus dem Irak gelangt, die bereits in Schweden erfolglos Asylverfahren durchlaufen hatte. Weil die Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gegen das erst in Deutschland geborene Kind der Familie zweimal gerichtlich aufgehoben wurden, sei über dessen Asylantrag im Ergebnis noch keine Erstentscheidung ergangen, was zur Anwendung von Art. 10 Dublin-III-VO für die klagenden Familienmitglieder führe. Darüber hinaus und insofern wohl systemwidrig nimmt das Gericht außerdem einen Anspruch der klagenden Familienmitglieder auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts aus Art. 17 Dublin-III-VO an.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wiesbaden in seinem Beschluss vom 24. Mai 2022 (Az. 5 L 244/22.WI.A), der in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen ist, stehen weder die deutsche Regelung über Zweitanträge (§ 71a AsylG) noch die nach deutschem Recht vorgesehene verfahrensrechtlich getrennte Prüfung von ziel- und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen in Widerspruch zu EU-Recht. Dass aktuell die Frage, ob aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 14. Januar 2021 in der Sache C-441/19 die Unionsrechtswidrigkeit der nach deutschem Recht vorgesehenen verfahrensrechtlich getrennten Prüfung von ziel- und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen zu folgern ist, in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet werde, rechtfertige unter anderem vor dem Hintergrund des in Eilverfahren anzulegenden strengen Maßstabs noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung.
Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hinsichtlich einer gemäß §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG erlassenen Abschiebungsandrohung mit einwöchiger Ausreisefrist ist statthaft bzw. fehlt einem Antragsteller nicht das notwendige Rechtsschutzbedürfnis, wenn die diesbezügliche behördliche Aussetzung der Vollziehung, zum Beispiel aufgrund von Ermessensfehlern, offensichtlich rechtswidrig ist, so das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 9. Juni 2022 (Az. 18a L 672/22.A). In dem entschiedenen Verfahren hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Vollziehung der von ihm erlassenen Abschiebungsandrohung zwar ausgesetzt, dabei aber unter anderem nicht erkannt, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handele, was die Aussetzung nach Ansicht des VG bereits rechtswidrig machte.
Radikale Äußerungen, die eine „abstrakte Ebene“ nicht verlassen, wodurch es an einem ausdrücklichen Einwirken auf andere mit einem durch Tatsachen belegbaren, vom betroffenen Ausländer verfolgten Ziel fehlt, in den anderen den Entschluss zu bestimmten Gewalthandlungen hervorzurufen, erfüllen nicht die Voraussetzungen für die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AufenthG, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 16. Juni 2022 (Az. 13 ME 367/21).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine thematische Rechtsprechungsübersicht zu inhaftierten Migranten (23 Seiten) aktualisiert, die jetzt den Stand Juni 2022 hat.