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Ausgabe 53 • 8.7.2022

Ergebnisorientiert verschlossen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt in begrüßenswerter Weise klar, welche Anforderungen die Europäische Menschenrechtskonvention an staatliche Seenotrettung stellt und wie Pushback-Vorwürfe untersucht und aufgeklärt werden müssen - nämlich jedenfalls nicht so, wie Griechenland das getan hat und deswegen vom EGMR verurteilt wurde. Außerdem geht es in dieser Ausgabe des HRRF-Newsletters darum, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Abschiebungsandrohung erlassen darf, wenn inländische Vollstreckungshindernisse vorliegen, ob ein Streit um eine Nebenbestimmung zu einer Duldung eine Streitigkeit nach dem Asylgesetz ist, und (erneut) darum, ob eine gemeinsame Staatsangehörigkeit von Familienangehörigen Voraussetzung für Familienschutz ist.

In der Ägäis gesunkenes Boot mit Schutzsuchenden: Griechenland hat Menschenrechte verletzt

In einem wichtigen Urteil vom 7. Juli 2022 (Safi u.a. gg. Griechenland, Az. 5418/15) hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Pushback-Praxis der griechischen Küstenwache geäußert und Griechenland wegen Verstößen gegen Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung) verurteilt. Das Verfahren hatten Überlebende eines Bootsunglücks angestrengt, bei dem im Januar 2014 11 Menschen starben, als ihr Boot in der Ägäis sank, nachdem sich ein Schnellboot der griechischen Küstenwache genähert hatte. Die Überlebenden, Schutzsuchende aus Afghanistan, Syrien und Palästina, werfen Griechenland vor, einen Pushback in Richtung Türkei versucht zu haben, bei dem ihr Boot gekentert sei, was die griechische Regierung bestritten hat. Der EGMR meint dazu, dass Griechenland die von den Überlebenden erhobenen Vorwürfe jedenfalls nicht angemessen und in einer Weise aufgeklärt habe, wie dies den Anforderungen der EMRK entspreche. Der zuständige Staatsanwalt habe etwa erklärt, dass „refoulement als Verfahren der Rückführung oder des Abschleppens (…) in türkische Hoheitsgewässer nicht als Praxis existiert (…)“, und die Vorwürfe nicht weiter verfolgt, was gegen die aus Art. 2 EMRK folgenden Verfahrenspflichten für die Aufklärung einer möglichen staatlichen Verantwortung für den Tod von Menschen verstoße. Außerdem habe die griechische Küstenwache nur unzureichende Rettungsversuche unternommen und auch sonst nicht alles getan, was vernünftigerweise von ihr hätte erwartet werden können, um menschliches Leben zu retten, was die ebenfalls aus Art. 2 EMRK folgenden staatlichen Schutzpflichten verletzt habe. Der EGMR verurteilte Griechenland weiterhin wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK, weil es Überlebende einer erniedrigenden Ganzkörperkontrolle ausgesetzt hatte. Der EGMR hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Gemeinsame Staatsangehörigkeit immer noch keine Voraussetzung für Zuerkennung von Familienschutz

Nicht nur das Verwaltungsgericht München (Urteil vom 2. Juni 2022, Az. M 28 K 20.30958), sondern auch das Verwaltungsgericht Berlin (Urteil vom 21. Juni 2022, Az. 38 K 294.19 A) freundet sich nicht mit der Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 AsylG nur zuzuerkennen, wenn die Familienangehörigen dieselbe Staatsangehörigkeit haben. Das VG Berlin stellt erneut klar, dass es beim Familienschutz nicht nur kein geschriebenes, sondern auch kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal gibt, wonach Familienangehörige (im entschiedenen Verfahren: Ehegatten) dieselbe Staatsangehörigkeit haben müssen. Das BAMF wäre gut beraten, Ziffer 3.3 seiner Dienstanweisung zum Familienschutz entsprechend zu aktualisieren.

Keine Abschiebungsandrohung gegen Minderjährigen, wenn inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse für Familienangehörigen vorliegen

Darf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Abschiebungsandrohung erlassen, ohne inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu prüfen, und sich darauf berufen, dass die Ausländerbehörde das schon berücksichtigen werde? Etwa, wenn es um das Zusammenleben eines Kindes mit seinen Eltern, oder einem Elternteil, in Deutschland geht? Ja, sagt die Rechtsprechung bislang, etwa das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 23. April 2021, Az. 19 A 810/16.A. Das Verwaltungsgericht Berlin hält das in seinem Urteil vom 3. Juni 2022 (Az. 26 K 91.17 A) für falsch, nämlich für europarechtswidrig. Eine Abschiebungsandrohung sei eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG, dabei müssten gemäß Art. 5 der Richtlinie das Wohl des Kindes und familiäre Bindungen berücksichtigt werden, und zwar vor Erlass der Rückführungsentscheidung, was im entschiedenen Verfahren jedoch nicht geschehen sei. Zwar spricht Art. 5 der Richtlinie lediglich davon, dass Kindeswohl und familiäre Bindungen (allgemein) „bei der Umsetzung [der] Richtlinie“ berücksichtigt werden müssen, eine notwendige Berücksichtigung gerade vor Erlass einer Rückkehrentscheidung ergibt sich aber jedenfalls aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom 11. März 2021 (Rs. C-112/20, M.A. gg. Belgischer Staat). Das VG Berlin liegt hier richtig und wirft dem OVG Münster nicht ganz zu Unrecht vor, sich dem EuGH-Urteil „ergebnisorientiert“ verschlossen zu haben.

Streit um eine Nebenbestimmung zu einer Duldung ist kein Streit nach dem Asylgesetz

Gegen bestimmte Entscheidungen der Verwaltungsgerichte kann man mit dem Rechtsmittel der Beschwerde vorgehen - außer wenn das Asylgesetz einschlägig ist. Dann nämlich, in „Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz“, ist gemäß § 80 AsylG die Beschwerde ausgeschlossen. Wann genau das der Fall sein soll, ist in der Rechtsprechung nicht endgültig geklärt. Geht es um eine Nebenbestimmung zu einer Duldung eines ehemaligen Asylsuchenden, wonach die Duldung mit der Bekanntgabe eines Abschiebungstermins erlösche, sei das noch keine Streitigkeit „nach dem Asylgesetz“, meint der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 8. Juni 2022 (Az. 12 S 3027/21), und sei eine Beschwerde möglich. Schon der Streit um die Erteilung der Duldung sei keine Streitigkeit nach dem Asylgesetz, das gelte dann für die Nebenbestimmung erst recht. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel sieht das in seinem Urteil vom 7. Oktober 2019 (Az. 6 B 2277/19.A) alles ganz anders.

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