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Ausgabe 61 • 2.9.2022

Fundierte Sachaufklärungspflicht

Das Bundesverfassungsgericht äußert sich zu den Sachaufklärungspflichten der Gerichte, wenn es um Abschiebungen in vom Krieg in der Ukraine betroffene Staaten geht, und zu überspannten Anforderungen an Erfolgsaussichten von sozialgerichtlichen Klagen. Außerdem geht es in dieser Ausgabe um rechtswidrige Abschiebungen nach Russland, Ausweisungen, eine Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit und - ein Klassiker - die Anforderungen an die Berufungsbegründung.

Auswirkungen der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen

Es könnte verfassungswidrig sein, die Auswirkungen der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen auf die Aufnahme und Behandlung anderer Gruppen Geflüchteter in den Aufnahmestaaten – unter anderem in Rumänien – nicht sorgfältig zu ermitteln, sagt das Bundesverfassungsgericht in einer einstweiligen Anordnung vom 19. Juli 2022 (Az. 2 BvR 961/22), mit der es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, eine angedrohte Abschiebung nach Rumänien zu vollziehen oder vollziehen zu lassen. Das in dem Verfahren involvierte Verwaltungsgericht Halle habe die aktuelle Lage in Rumänien nicht einmal „ansatzweise“ berücksichtigt, obwohl sich dies aufgedrängt habe. Dies könne eine Verletzung der verfassungsrechtlich fundierten Pflicht zur Sachaufklärung darstellen und den grundrechtlichen Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.

Menschenrechtswidrige Abschiebung bei Gefährdungsanalyse erst nach Abschiebung

Die Abschiebung eines Flüchtlings verstößt gegen Art. 3 EMRK, wenn eine mögliche Gefährdung des Betroffenen im Zielstaat der Abschiebung erst nach der Abschiebung analysiert wird, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 30. August 2022 (Az. 49857/20, R. gg. Frankreich). In dem Verfahren war die Gefährdungssituation des Betroffenen, der nach Russland abgeschoben worden war, erst nach seiner Abschiebung im innerstaatlichen gerichtlichen Verfahren erörtert worden.

Menschenrechtswidrige Abschiebung, wenn Ermittlungsunterlagen in Zielstaat gelangen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 30. August 2022 (Az. 1348/21), W. gg. Frankreich entschieden, dass eine Abschiebung gegen Art. 3 EMRK verstoßen kann, wenn der abschiebende Staat seine Ermittlungsunterlagen versehentlich mit den Behörden des Zielstaats teilt und den Flüchtling dadurch gefährdet. In dem Verfahren hatten französische Behörden bei der Beantragung eines Reisedokuments dem zuständigen russischen Konsulat aus Versehen ihre internen Ermittlungsunterlagen übermittelt.

Verfassungswidrige Überspannung der Anforderungen an Erfolgsaussichten einer sozialgerichtlichen Klage

Rechtsanwalt Volker Gerloff berichtet auf Twitter über einen von ihm erstrittenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 2022 (Az. 1 BvR 1012/20), wonach die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Verfahren verfassungswidrig ist, wenn die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Klage überspannt werden. In dem Verfahren ging es um einen Fahrtkostenzuschuss, der gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG nicht als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen ist, den das Sozialgericht aber offenbar gleichwohl als Grund für eine Kürzung des Bedarfssatzes heranziehen wollte.

Voraussetzungen eines besonders schweren Ausweisungsinteresses bei Unterstützung einer terroristischen Vereinigung

In seinem Beschluss vom 8. August 2022 (Az. 2 M 38/22) hat das Oberverwaltungsgericht Magdeburg sich zu den Voraussetzungen geäußert, die an das Vorliegen der Tatbestände eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 AufenthG zu stellen sind. Danach setze etwa ein öffentlicher Aufruf zur Gewaltanwendung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 AufenthG ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches Einwirken auf andere mit dem Ziel voraus, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Handlungen hervorzurufen. Der Aufruf zu Hass im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG sei durch ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches oder konkludentes Einwirken auf andere mit dem Ziel gekennzeichnet, in diesen den Entschluss zu einem bestimmten Verhalten hervorzurufen. Der Hass richte sich „gegen Teile der Bevölkerung“, wenn eine in Deutschland lebende Bevölkerungsgruppe betroffen sei, die sich etwa nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheiden lasse und zahlenmäßig so erheblich sei, dass sie individuell nicht mehr überschaubar sei. Ziele die Äußerung auf Gruppen im Ausland, so komme es darauf an, ob damit zugleich eine entsprechende Gruppe im Inland betroffen sei. Das Bleibeinteresse eines Ausländers nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG entfalle nicht immer dadurch, dass der deutsche Ehegatte dem ausgewiesenen bzw. abgeschobenen Ausländer in sein Heimatland gefolgt sei.

Ausweisung eines jugendlichen IS-Straftäters bestätigt

Das Verwaltungsgericht Berlin berichtet in einer Pressemitteilung vom 30. August 2022 über seinen Beschluss vom 25. August 2022 (Az. VG 13 K 41.19), wonach es eine vom Berliner Landesamt für Einwanderung ausgesprochene Ausweisung eines Jugendlichen bestätigt habe. Der Betroffene war 2021 in Berlin wegen eines Kriegsverbrechens, Beihilfe zum Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilt worden, das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass von ihm auch weiterhin eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland ausgehe. Dass der Kläger zuletzt keine radikal-islamistischen Tendenzen an den Tag gelegt habe, mindere seine Gefährlichkeit nicht.

Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit rechtswidrig

In seinem Beschluss vom 25. August 2022 (Az. 1 E 189/22) hält das Verwaltungsgericht Göttingen eine zur Nachtzeit, nämlich um 03:30 Uhr, geplante Dursuchung einer Wohnung zur Ergreifung abzuschiebender Ausländer für offensichtlich unzulässig und rechtswidrig, wenn der Antragsteller die vorgesehene Uhrzeit mit organisatorischen Aspekten begründet. Im entschiedenen Verfahren ging es um eine Dublin-Überstellung nach Dänemark und hatte die antragstellende (vermutlich aber gar nicht zuständige) Ausländerbehörde ausgeführt, dass die dänischen Behörden eine Überstellung nur bis 14 Uhr akzeptieren würden, so dass der einzige in Betracht kommende und bereits terminierte Flug um 09:45 Uhr sonst nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Ein Blick ins Gesetz hätte der Behörde eigentlich reichen müssen, um die Unzulässigkeit ihres beabsichtigten Vorgehens zu erkennen, stellt doch § 58 Abs. 7 S. 2 AufenthG ausdrücklich klar, dass die Organisation einer Abschiebung gerade kein Grund ist, der das Betreten und Durchsuchen einer Wohnung zur Nachtzeit rechtfertigen kann.

Anforderungen an die Berufungsbegründung

Das Oberverwaltungsgericht Saarlouis präzisiert in seinem Beschluss vom 17. August 2022 (Az. 2 A 88/22) die Anforderungen an die Berufungsbegründung im asylrechtlichen Berufungsverfahren. Danach müsse der Berufungsführer nach Zulassung der Berufung in jedem Fall einen gesonderten Schriftsatz zur Berufungsbegründung einreichen; diese Anforderung sei unverzichtbar. Daher genüge es nicht, wenn sich die Begründung und der Antrag dem Vorbringen im Zulassungsverfahren entnehmen ließen. Eine Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen im Berufungsbegründungsschriftsatz sei dagegen zulässig, sofern der Berufungskläger sich in seinem Zulassungsantrag mit der erstinstanzlichen Entscheidung im Einzelnen auseinandergesetzt und zu seiner gegenteiligen Rechtsauffassung umfassend vorgetragen habe.

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