Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. April 2023 (Rs. C-528/21) unter anderem zu einigen Fragen der Auslegung der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG Stellung genommen, die durch neuerliche Kapriolen ungarischer Ausländerbehörden im Jahr 2018 veranlasst waren. In dem Verfahren, das ein ungarisches Gericht dem EuGH vorgelegt hatte, ging es um die Nichtverlängerung der ungarischen Aufenthaltserlaubnis eines Drittstaatsangehörigen, dessen Familie die ungarische Staatsangehörigkeit besaß, und um die Verhängung eines Einreiseverbots gegen diesen Drittstaatsangehörigen, ohne dass eine Rückführungsentscheidung gegen ihn ergangen wäre.
Der EuGH hielt fest, dass Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen des Betroffenen in gebührender Weise berücksichtigen, von mitgliedstaatlichen Gerichten unmittelbar anwendbar sein könne, wenn eine nationale Regelung und ein darauf beruhendes Einreiseverbot gegen Art. 5 der Richtlinie verstießen. Außerdem sei Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie so auszulegen, dass vor Erlass eines Verbots der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union der Gesundheitszustand sowie die familiären Bindungen und das Wohl der minderjährigen Kinder des Betroffenen berücksichtigt werden müssen, wenn das Einreiseverbot unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung über den Entzug der Aufenthaltserlaubnis des Betroffenen und aus denselben Gründen erlassen werde, auch wenn entgegen den Anforderungen der EU-Rückführungsrichtlinie keine Rückführungsentscheidung ergangen sei.
Deutliche Worte fand der EuGH zur Auslegung von Art. 13 der EU-Rückführungsrichtlinie, der Rechtsbehelfe gegen Rückführungsentscheidungen regelt. Er stehe einer nationalen Praxis entgegen, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet werde, mit der Begründung verweigerten, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das Schengener Informationssystem eingegeben worden sei.