Ausgabe 97 • 26.5.2023

Weitere Ehefrau

In einer Woche voller Pressemitteilungen deutscher Gerichte geht es um Polygamie, russischen Wehrdienst, eine möglicherweise unwirksame Klagerücknahme durch einen Vormund, einen Folgeantrag nach Rückkehr ins Heimatland, mal wieder um eine Dublin-Überstellung nach Italien, um eine Ausweisung ohne vorherige Einreise sowie um die Frage des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit nach Anfechtung der Vaterschaft.

Kein Familienflüchtlingsschutz für mehr als eine Ehefrau

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg berichtet in einer Pressemitteilung vom 19. Mai 2023 über sein Urteil vom 17. Mai 2023 (Az. 3 B 24/22), wonach nur eine der Ehefrauen eines mit mehreren Ehefrauen verheirateten anerkannten Flüchtlings abgeleiteten Familienflüchtlingsschutz erhalten könne. Das sehen andere Gerichte in Deutschland freilich anders, etwa das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 8. Mai 2020 (Az. 8 A 275/19), wonach bei Bestehen einer Mehrehe weder der Normzweck noch höherrangiges Recht den Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz ausschließen würden. Der Wortlaut des OVG-Urteils ist noch nicht verfügbar, die Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat das OVG aber wegen grundsätzlicher Bedeutung jedenfalls zugelassen.

Einmal abgesehen davon, dass sich aus dem Normzweck des Familienflüchtlingsschutzes nun beim besten Willen nicht erschließt, warum nur eine von mehreren Ehefrauen schutzbedürftig sein soll, kann man doch auf die Ausführungen des OVG unter anderem in Hinblick darauf gespannt sein, welche der Ehefrauen denn vom Familienflüchtlingsschutz profitieren soll.

Kein Flüchtlingsschutz bei Einberufung zum Wehrdienst in Russland

Anders als die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Potsdam (Beschluss vom 1. März 2023, Az. 6 L 300/22.A) hält es die 16. Kammer des Gerichts in ihrem Urteil vom 21. April 2023 (Az. 16 K 2790/17.A) für nicht relevant, dass ein russischer Schutzsuchender eine Einberufung zum Wehrdienst in der Russischen Föderation erhalten hat. Es sei zu berücksichtigen, dass von den Wehrpflichtigen nach ihrer Musterung (sic) nur „jeder Vierte bis Fünfte“ tatsächlich eingezogen werde. Außerdem seien Grundwehrdienstleistende nicht für den Kriegsdienst vorgesehen, was auch Staatspräsident Putin so gesagt habe. Es könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass Grundwehrdienstleistende im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Ukraine und somit für den russischen Angriffskrieg eingesetzt würden, jedoch gebe es nur noch vereinzelte Berichte, dass Wehrpflichtige an die Front gebracht würden, was für eine Prognoseentscheidung zugunsten des Klägers nicht ausreiche. Schließlich sei „in jedem Falle“ zu berücksichtigen, dass trotz der jüngsten Verschärfungen des Wehr- und Militärrechts die Möglichkeit aufrechterhalten geblieben sei, den Wehrdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen.

Die Entscheidung fügt sich leider in ein Gesamtbild eines restriktiven Umgangs mit schutzsuchenden russischen Kriegsdienstverweigerern in Deutschland ein, über das etwa am 24. Mai 2023 die tagesschau berichtet hat.

Keine Klagerücknahme gegen den Willen des minderjährigen Betroffenen

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat laut einer am 25. Mai 2023 bei Twitter veröffentlichten Information einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Versagung der Gewährung von Prozesskostenhilfe in einem asylgerichtlichen Verfahren richtete. Die teilweise auf Twitter veröffentlichte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs hält es offenbar für möglich, dass die Rücknahme einer Asylklage durch einen Vormund ohne Zustimmung des unter Vormundschaft stehenden Minderjährigen unwirksam sein könnte, weil ein möglicher Verstoß gegen das unter anderem aus Art. 24 GRCh folgende Recht des Minderjährigen auf Beteiligung nicht nur im Innenverhältnis zwischen Vormund und Mündel wirke, sondern möglicherweise auch im Außenverhältnis auf die erklärte Klagerücknahme durchschlage.

Kein Folgeverfahren trotz vorheriger Rückkehr ins Heimatland

In seinem auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Minden zurückgehenden Urteil vom 25. Mai 2023 (Rs. C-364/22) hält der Europäische Gerichtshof die deutsche Regelung für Folgeverfahren mit Europarecht vereinbar, wenn es darum geht, dass ein erneuter Asylantrag eines Ausländers trotz einer zwischenzeitlichen Rückkehr in sein Heimatland als Folgeantrag behandelt wird. Die Tatsache, dass sich der Antragsteller vor der Stellung eines Folgeantrags in seinem Herkunftsland aufgehalten habe, könne zwar einen Einfluss auf die gebotene Gefahrenbeurteilung und damit auf die Entscheidung über die Gewährung internationalen Schutzes haben. Der bloße Umstand jedoch, dass eine Rückkehr ins Herkunftsland erfolgt sei, bedeute jedoch noch nicht unbedingt, dass „neue Umstände oder Erkenntnisse“ im Sinne von Art. 40 EU-Asylverfahrensrichtlinie vorlägen. Dass es sich bei dem Folgeantrag um einen „neuen Antrag“ im Sinne von Art. 19 Abs. 3 Dublin‑III-Verordnung handele, sei eine davon unabhängige Frage.

Keine Dublin-Überstellung nach Italien

Die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Aachen geht in ihrem Beschluss vom 17. Mai 2023 (Az. 9 L 379/23.A) nunmehr davon aus, dass Eilrechtsschutz gegen beabsichtigte Dublin-Überstellungen nach Italien zu gewähren ist. Bei der derzeitigen Sach- und Rechtslage könne nicht von einer Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft Italiens ausgegangen werden, der Kammer lägen im Gegensatz zu den Vormonaten keine Akzeptanzschreiben der italienischen Dublin-Einheit mehr vor. Außerdem hätten die italienischen Behörden noch immer nicht in Aussicht gestellt, dass und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt sie sich zur Wiederaufnahme von Überstellungen in der Lage sähen. In ihrem Beschluss vom 22. März 2023 (Az. 9 L 223/23.A) hatte die Kammer es noch abgelehnt, Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellungen nach Italien zu gewähren.

Keine Ausweisung ohne Einreise

Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 25. Mai 2023 über sein Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 6.22), in dem es die Ausweisung eines visumpflichtigen Ausländers deswegen für rechtswidrig gehalten hat, weil sich der Ausländer noch nie in Deutschland aufgehalten hat. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG seien im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung die Interessen an der Ausreise des Ausländers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet abzuwägen, daraus werde deutlich, dass eine Ausweisung an einen Aufenthalt des Ausländers im Inland anknüpfe. Dieses Ergebnis werde auch von gesetzessystematischen Erwägungen gestützt. Bestehe bei einem noch nie eingereisten visumpflichtigen Ausländer ein Ausweisungsinteresse, sei dem nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes in erster Linie im Rahmen der Entscheidung über die Erteilung eines Visums Rechnung zu tragen.

Kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nach Vaterschaftsanfechtung

Die erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft für ein Kind führt nicht dazu, dass das Kind die von dieser Vaterschaft abgeleitete deutsche Staatsangehörigkeit verliert, meint das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Urteil vom 25. Mai 2023 (Az. 13 LC 287/22), über das es in einer Pressemitteilung berichtet. Es fehle an einer gesetzlichen Grundlage für einen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Der Gesetzgeber sei zwar davon ausgegangen, dass die deutsche Staatsangehörigkeit bei erfolgreicher Vaterschaftsanfechtung entfalle, habe den hiermit verbundenen Verlust der Staatsangehörigkeit aber selbst nicht ausdrücklich angeordnet.

Siehe zur Frage des rückwirkenden Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit nach einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung auch den Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Zekai Dağaşan im brandneuen Heft 2/2023 der ANA-ZAR.

ISSN 2943-2871