Das litauische Verfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 7. Juni 2023 (Az. 10-A/2022) einen Teil der seit 2021 erfolgten Verschärfungen im litauischen Asylrecht für mit der litauischen Verfassung für unvereinbar erklärt. Die Bestimmung, wonach Asylsuchende unter anderem im Falle eines „Massenzustroms“ für bis zu sechs Monate in Gewahrsam genommen werden können, sei unverhältnismäßig und verstoße gegen Art. 20 der litauischen Verfassung, der die Freiheit der Person garantiere.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen präzisiert in seinem lesenswerten Urteil vom 22. Mai 2023 (Az. 15a K 2809/21.A) die Anforderungen an die Annahme einer geschlechtsspezifischen Verfolgung im Rahmen von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG, d.h. bei der Prüfung, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliegt, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Diese Bestimmung konkretisiere als lex specialis die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG grundsätzlich definierten drei notwendigen Bedingungen für die Annahme einer flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgung, nämlich Verfolgungshandlung, Verfolgungsgrund und Verknüpfung für Fälle geschlechtsspezifischer Verfolgung dahingehend, dass Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nicht getrennt voneinander zu prüfen seien. Der Gesetzgeber habe die flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung wegen der Geschlechtszugehörigkeit oder der geschlechtlichen Identität der Verfolgten allein wegen des in ihr gleichsam erfüllten Verfolgungsgrundes für eine Flüchtlingsanerkennung ausreichen lassen wollen; dies sei auch mit Europarecht vereinbar.
Das Bundesverwaltungsgericht informiert am 5. Juni 2023 in einer Pressemitteilung darüber, dass bei dem Gericht die erste Tatsachenrevision gemäß § 78 Abs. 8 AsylG eingegangen ist. § 78 Abs. 8 AsylG ist seit Anfang 2023 in Kraft und erlaubt die Revision gegen ein Urteil eines Oberverwaltungsgerichts, wenn das Oberverwaltungsgericht in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und die Revision deswegen zugelassen hat.
In dem nun beim BVerwG anhängigen Verfahren (Az. 1 C 10.23) geht es um die Frage, ob in Italien als subsidiär schutzberechtigt Anerkannten in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hatte diese Frage in seinem Urteil vom 27. März 2023 (Az. 13 A 10948/22) verneint, während das Oberverwaltungsgericht Münster sie in seinem Urteil vom 20. Juli 2021 (Az. 11 A 1674/20.A) bejaht hatte. Im Revisionsverfahren dürfte es unter anderem um die Rechtsfrage gehen, ob Obdachlosigkeit für sich genommen bereits für die Annahme einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not ausreicht oder nicht.
Die Fünfjahresfrist in § 104c Abs. 1 AufenthG, der die Voraussetzungen des Chancen-Aufenthalts regelt, bezieht sich nur auf die Dauer des Voraufenthalts in Deutschland, nicht aber auch auf den Zeitraum, in dem etwaige Vorstrafen einen Anspruch auf Chancen-Aufenthalt beeinträchtigen könnten, sagt das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 1. Juni 2023 (Az. 3 S 10/23). Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut von § 104c AufenthG, außerdem seien strafrechtliche Verurteilungen, soweit sie die in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelten Voraussetzungen erfüllen, nach § 51 Abs. 1 BZRG eben so lange relevant, wie sie im Bundeszentralregister nicht getilgt oder zu tilgen seien.
Eine gegen die Anordnung von Abschiebungshaft eingelegte Beschwerde kann verfristet sein, auch wenn der Haftbeschluss zuvor nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde, meint der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 4. April 2023 (Az. XIII ZB 75/20). Zwar führe eine unterbliebene ordnungsgemäße Zustellung zur Unwirksamkeit der Bekanntgabe des Haftbeschlusses, wodurch die Beschwerdefrist nicht zu laufen beginne, jedenfalls aber finde § 63 Abs. 3 S. 2 FamFG Anwendung, wonach bei fehlender Bekanntgabe eine Frist von fünf Monaten nach Erlass des Haftbeschlusses gelte. Diese Frist finde auch bei einer fehlerhaften Zustellung Anwendung, weil sie Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schaffe.