Leitentscheidungen im aktuellen politischen Diskurs

Die flüchtlingspolitische Debatte der vergangenen und wohl auch kommenden Wochen ist eine Debatte, die immerhin auch unter Bezugnahme auf eine Reihe flüchtlingsrechtlicher Gerichtsentscheidungen geführt wird. Solche Bezugnahmen liegen nahe und sind sinnvoll, wenn auf die rechtlichen Vorgaben hingewiesen werden soll, die sich aus den Entscheidungen für die Ausgestaltung des Flüchtlingsschutzes ergeben. Bezugnahmen finden sich aber auch, um den trotz solcher Entscheidungen angeblich noch bestehenden politischen Gestaltungsspielraum hervorzuheben oder um gar eine angebliche Signalwirkung zu betonen, die von einzelnen Entscheidungen ausgehen soll. Eine kurze Übersicht einiger derzeit diskutierter Themen (und Begriffe) samt der dazugehörenden Leitentscheidungen, von „Afghanistan“ bis „Zurückweisung“:

  • Aufnahmestopp. Ein Aufnahmestopp für Flüchtlinge, der es Schutzsuchenden (ob nur aus bestimmten Herkunftsländern oder generell) unmöglich macht, im Hoheitsgebiet oder an der Grenze eines EU-Mitgliedstaats einen Asylantrag zu stellen, verstößt gegen die EU-Asylverfahrensrichtlinie, so die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020 (Rs. C-808/18) und vom 30. Juni 2022 (Rs. C-72/22 PPU).
  • Auslagerung. Die Auslagerung von Asylverfahren in und die Schutzgewährung durch Drittstaaten, so wie die britische Regierung es 2023 in ihrem Ruanda-Modell vorsah, verstößt praktisch immer gegen das unter anderem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention folgende Non-Refoulement-Gebot, was auch der britische Supreme Court in seinen Urteilen vom 15. November 2023 (Az. 2023/0093, 2023/0094, 2023/0095, 2023/0096, 2023/0097 und 2023/0098) so gesehen hat.
  • Ausreisearrest. Ein zeitlich unbegrenzter Ausreisearrest, der als Einrichtung „mit drei Wänden“ konzipiert und nur in Richtung Ausland offen ist, stellt eine Freiheitsentziehung dar, wenn Betroffene ihn in keine Richtung rechtmäßig verlassen können, so der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Mai 2020 (Rs. C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU), das kann etwa der Fall sein, wenn die Einreise in einen Nachbarstaat von diesem sanktioniert würde (z.B. als illegale Einreise) und wenn auch sonst kein Staat zur Aufnahme der Betroffenen bereit wäre.
  • Handgeld. Ein Handgeld wird bei Abschiebungen unter anderem wegen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 2022 (Az. 1 C 10.21) gewährt, weil solche Rückkehrhilfen Betroffene in die Lage versetzen, ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen und eine Verelendung im Herkunftsland unwahrscheinlicher machen, was für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes vorzunehmende Gefahrenprognose relevant ist.
  • Leistungskürzungen. Zu Kürzungen von Sozialleistungen (ggf. bis auf Null) sagt das Bundesverfassungsgericht, dass das Grundgesetz ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet und dass der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren darf (Urteil vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11), er allerdings von Betroffenen verlangen darf, an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen (Urteil vom 19. Oktober 2022, Az. 1 BvL 3/21), solange er Mitwirkungspflichten und daran anknüpfende Sanktionen verhältnismäßig ausgestaltet (Urteil vom 5. November 2019, Az. 1 BvL 7/16), was bei der Erzwingung einer freiwilligen Ausreise durch Hunger sicherlich nicht mehr der Fall wäre.
  • Nationale Notlage. Die gemäß Art. 72 AEUV bestehende Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit kann nicht durch das einseitige Ausrufen einer nationalen Notlage oder durch das bloße Berufen auf diese Bestimmung genutzt werden, sondern ist an strenge Voraussetzungen gebunden, sagt der Europäische Gerichtshof, der das Vorliegen dieser Voraussetzungen noch nie bejaht hat, sondern die entsprechende Argumentation von EU-Mitgliedstaaten stets als Schutzbehauptungen zurückgewiesen hat, unter anderem in seinen Urteilen vom 2. April 2020 (Rs. C-715/17, C-718/17; C-719/17) und vom 17. Dezember 2020 (Rs. C-808/18).
  • Syrien. Abschiebungen nach Syrien hat das OVG Münster in seinem unlängst ergangenen Urteil vom 16. Juli 2024 (Az. 14 A 2847/19.A) nicht für zulässig erklärt, sondern lediglich entschieden, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes, nämlich eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts, für aus Syrien geflüchtete Schutzsuchende nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote liegen dagegen weiterhin vor.
  • Zurückweisung. Die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen an EU-Binnengrenzen verstößt gegen die EU-Rückführungsrichtlinie, sagt der Europäischen Gerichtshof in seinen Urteilen vom 19. März 2019 (Rs. C-444/17) und vom 21. September 2023 (Rs. C‑143/22), jedenfalls wenn nicht bereits vor 2009 existierende bilaterale Rückübernahmeabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten angewandt werden können, und sie verstößt unabhängig davon gegen die Dublin-III-Verordnung und die EU-Asylverfahrensrichtlinie, sofern Betroffene an der Grenze einen Asylantrag stellen, siehe die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Januar 2018 (Rs. C-360/16) und vom 31. Mai 2018 (Rs. C-647/16).

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ISSN 2943-2871