Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Oktober 2024 (Rs. C-156/23) verleiht dem in Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG niedergelegten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement-Gebot) eine ganz neue praktische Bedeutung bei der Durchführung von Abschiebungen. In dem Verfahren ging es um eine Familie, die in den Niederlanden einen Asylantrag gestellt hatte, der 2012 abgelehnt wurde, mit der Ablehnung der Asylanträge wurden Rückkehrentscheidungen (d.h. Abschiebungsandrohungen) erlassen. In der Folge stellten Familienmitglieder über einen Zeitraum von mehreren Jahren verschiedene Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen, die ebenfalls abgelehnt wurden. Nun stellte sich dem vorlegenden niederländischen Gericht die Frage, ob nach der Ablehnung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln die 2012 erlassenen Rückkehrentscheidungen immer noch eine Grundlage für die Durchführung von Abschiebungen bilden könnten, unter anderem deswegen, weil Familienmitglieder zwischenzeitlich neue zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse geltend gemacht hatten, jedoch ohne einen neuen Asylantrag zu stellen.
Der Gerichtshof hat zu dieser Frage festgestellt, dass Rückkehrentscheidungen von den nationalen Behörden nicht unreflektiert und quasi automatisch herangezogen werden können, um Abschiebungen durchzuführen, sondern dass die Behörden vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung eine aktualisierte Bewertung der Gefahren im Zielstaat der Abschiebung vornehmen müssen, und zwar jedenfalls dann, wenn sie zwischenzeitlich einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt haben. Diese Bewertung, die von der zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung durchgeführten Bewertung getrennt und unabhängig sein müsse, müsse es der nationalen Behörde ermöglichen, sich unter Berücksichtigung jeder eingetretenen Änderung der Umstände sowie jedes neuen, von einem Drittstaatsangehörigen gegebenenfalls vorgetragenen Gesichtspunkts zu vergewissern, dass es keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe für die Annahme gebe, dass der betroffene Drittstaatsangehörige im Fall der Rückkehr in einen Drittstaat dort tatsächlich der Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werde. Denn nur eine solche aktualisierte Bewertung ermögliche es dieser Behörde, sich zu vergewissern, dass die Abschiebung den rechtlichen Voraussetzungen und insbesondere den in Art. 5 Rückführungsrichtlinie festgelegten Anforderungen entspreche. Außerdem verstoße eine nationale Regel oder Praxis, nach der die Prüfung der Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nur im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes vorgenommen werden könne, gegen Art. 5 Rückführungsrichtlinie in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 GRCh. Von Betroffenen könne daher nicht verlangt werden, dass sie einen (neuen) Antrag auf internationalen Schutz stellten.
So logisch das Urteil des Gerichtshofs angesichts des klaren Wortlauts von Art. 5 Rückführungsrichtlinie ist, so viel Verwirrung wird es vermutlich in der deutschen Behörden- und Abschiebungspraxis stiften. In den meisten Fällen wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits in einem Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG festgestellt haben, dass keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse vorliegen, an diese Beurteilung sind die Ausländerbehörden gemäß § 42 AsylG gebunden. Sie werden vor Abschiebungen, die von diesem Urteil erfasst werden, nun stets mit dem Bundesamt Rücksprache halten müssen, damit es seine Entscheidung zu den zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen aktualisieren kann. Dabei wird es wohl um zwei Fallgruppen gehen, nämlich einerseits um Konstellationen, in denen die Ausländerbehörde zeitlich nach der Ablehnung eines Asylantrags einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt hat, und andererseits um Konstellationen, in denen Betroffene gegenüber der Ausländerbehörde neue Umstände zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen geltend gemacht haben.
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