Italien hat im November 2017 keine „Hoheitsgewalt“ im Sinne von Art. 1 EMRK ausgeübt, als Schutzsuchende nach einem Schiffsunglück im Mittelmeer von einem libyschen Schiff aufgebracht und nach Libyen verbracht wurden, meint der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 12. Juni 2025 (Az. 21660/18, S.S. u.a. gg. Italien) (es gibt auch eine Pressemitteilung), und hat eine von Überlebenden eingereichte Menschenrechtsbeschwerde darum als unzulässig zurückgewiesen. Italien habe im Kontext des Schiffsunglücks keine extraterritoriale Hoheitsgewalt dadurch ausgeübt, dass es im Jahr 2017 ein Abkommen mit Libyen zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung irregulärer Migration geschlossen, mit Libyen kooperiert und die libyschen Grenzschutz- und Küstenwachbehörden finanziell und logistisch unterstützt habe, und auch nicht nicht dadurch, dass es den Rettungseinsatz im November 2017 über Funk koordiniert habe.
Daran ändere es auch nichts, dass alle dem Gerichtshof vorliegenden Berichte internationaler Gremien und Nichtregierungsorganisationen belegten, dass Asylsuchende, Flüchtlinge und Migranten zum Zeitpunkt der Ereignisse in Libyen der Gefahr von Folter, Sklaverei und Diskriminierung ausgesetzt gewesen seien. Der Gerichtshof habe zwar entschieden, dass ungeachtet des Rechts der Staaten, ihre Einwanderungspolitik souverän festzulegen, Schwierigkeiten bei der Steuerung der Migrationsströme nicht den Rückgriff der Staaten auf Praktiken rechtfertigen könnten, die mit ihren vertraglichen Verpflichtungen unvereinbar seien, und auch die Besonderheit des maritimen Kontexts nicht zur Schaffung eines rechtsfreien Raums führen dürfe, jedoch sei er nur für die Überwachung der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention zuständig, und das eben auch nur, soweit ihr Geltungsbereich berührt sei. Die dem Gerichtshof zur Prüfung vorgelegte Situation werde auch durch andere Normen des Völkerrechts geregelt, insbesondere in Bezug auf die Rettung von Menschen auf See, den Schutz von Flüchtlingen und die Verantwortung von Staaten, deren Einhaltung er aber nicht überprüfen dürfe und an deren Auslegung durch andere Gremien er auch nicht gebunden sei.
Mit dieser Entscheidung hat Italien (und haben potentiell weitere EMRK-Staaten) offenbar zumindest vorerst einen Weg gefunden, sich von ihren aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen ganz einfach dadurch zu lösen, dass nicht sie selbst handeln, sondern andere Staaten sozusagen in ihrem Auftrag handeln lassen. Die libysche Seenotrettung als „Marionettenregime“ ermöglicht also die Externalisierung der Migrationskontrolle, „refoulement by proxy“ und so das Outsourcing von Pushbacks, die jedenfalls aus der Perspektive der EMRK zu rechtsfreien Pullbacks werden.
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