EuGH erklärt subjektive Nachfluchtgründe bei Religionswechsel

In seinem Urteil vom 29. Februar 2024 (Rs. C-222/22) erläutert der Europäische Gerichtshof sehr ausführlich und sehr grundsätzlich, wie die etwas missverständliche Formulierung in Art. 5 Abs. 3 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU zu verstehen ist, wonach es EU-Mitgliedstaaten bei Vorhandensein einer entsprechenden nationalen Regelung erlaubt ist, einen Folgeantrag „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ und „in der Regel“ abzulehnen, wenn die geltend gemachte Verfolgungsgefahr auf vom Antragsteller nach Verlassen seines Herkunftslandes „selbst geschaffenen Umständen“ beruht, etwa auf einem Religionswechsel. Ein solcher Folgeantrag darf jedenfalls nicht automatisch als rechtsmissbräuchlich abgelehnt werden, sagt der Gerichtshof, sondern nur dann, wenn der Antrag auf eine positiv festgestellte Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen ist, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu „instrumentalisieren“.

Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie habe Ausnahmecharakter und sei deshalb eng auszulegen, außerdem sei eine Auslegung unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention vorzunehmen, die keine Einschränkung im Hinblick darauf vorsehe, dass die begründete Furcht vor Verfolgung auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslands beruhen könne, die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits dort bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung seien. Die Wendung „selbst geschaffene Umstände“ ziele darauf ab, eine Missbrauchsabsicht des Antragstellers zu ahnden, der die Umstände, auf denen die Verfolgungsgefahr beruhe, der er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, „durch eigenes Zutun erzeugt“ und damit das anwendbare Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes instrumentalisiert habe (auf eine bloße Kausalität wird es dabei nicht ankommen können, weil der Gerichtshof im Kontext des Religionswechsels auch ausführt, dass bei einer Konversion „aus innerer Überzeugung“, die ja irgendwie auch durch eigenes Zutun erzeugt wurde, eine Missbrauchsabsicht ausgeschlossen sei).

Die Feststellung einer Missbrauchsabsicht und der Absicht, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, erfordere eine individuelle Prüfung des Antrags anhand aller in Rede stehenden Umstände durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, wobei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen seien. Daraus folge, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie entgegen dem Vorbringen der österreichischen und der deutschen Regierung nicht dahin ausgelegt werden könne, dass die fakultative Umsetzung dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten davon befreie, die zuständigen nationalen Behörden zu verpflichten, jeden Folgeantrag auf internationalen Schutz individuell zu prüfen. Diese Bestimmung könne auch nicht dahin ausgelegt werden, dass eine solche Umsetzung es den Mitgliedstaaten erlaube, eine vom Antragsteller zu widerlegende Vermutung aufzustellen, wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen sei, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu instrumentalisieren. Eine solche Auslegung würde nämlich Art. 4 der Richtlinie, der eine individuelle und umfassende Prüfung aller Anträge auf internationalen Schutz vorsehe, die praktische Wirksamkeit nehmen.

In Fällen, in denen die mit einem Folgeantrag befasste zuständige nationale Behörde feststelle, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, so dass ihm die Anerkennung als Flüchtling auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie verweigert werden könne, bedeute der Ausdruck „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“, dass der Antragsteller im betreffenden Mitgliedstaat trotzdem die durch die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleisteten Rechte in Anspruch nehmen könne, falls die Behörde im Licht der genannten Umstände feststelle, dass der Antragsteller für den Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland wahrscheinlich einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Zu diesen Rechten zähle das durch Art. 33 Abs. 1 dieser Konvention gewährleistete Recht, wonach kein vertragschließender Staat einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen wird, in denen sein Leben oder seine Freiheit insbesondere wegen seiner Religion bedroht sein würde.

Der Gerichtshof hat zu seinem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

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ISSN 2943-2871