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Ausgabe 110 • 25.8.2023

Politische Rahmenbedingungen

Das Bundesverfassungsgericht äußert sich zu den italienischen Dublin-Rundschreiben, das Bundesverwaltungsgericht wird sich zur Situation in Afghanistan äußern, daneben geht es um Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Litauen sowie um den Begriff des faktischen Inländers.

Effektiver Rechtsschutz verlangt Berücksichtigung von Italien-Rundschreiben

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 2. August 2023 (Az. 2 BvR 593/23) eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 4. April 2023 (Az. 5 B 1613/22 SN) zwar wegen nicht hinreichender Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen, dem Verwaltungsgericht aber gleichwohl einige deutliche Worte mit auf den Weg gegeben. In dem Verfahren ging es darum, ob die Anordnung einer Dublin-Überstellung nach Italien angesichts der dort bestehenden systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens zulässig war, und zwar gerade vor dem Hintergrund der seit Dezember 2022 bekannten Weigerung Italiens, an Dublin-Überstellungen mitzuwirken. Die Verfassungsbeschwerde hatte dem Verwaltungsgericht vorgeworfen, die italienischen Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 in seinem Beschluss ignoriert und damit gegen den Ermittlungsgrundsatz verstoßen zu haben.

Es spreche einiges dafür, so das BVerfG, dass das Verwaltungsgericht den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, nämlich der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, nicht gerecht geworden sei. Vor allem habe es versäumt, sich im Rahmen der Amtsermittlung über die aktuelle Aufnahmesituation in Italien zu informieren und die Mitteilungen hinsichtlich des Aufnahmestopps zu berücksichtigen, obwohl dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich gewesen wäre. Italien gehöre zu denjenigen Dublin-Staaten, die in besonderer Weise von häufig und in erheblichem Umfang wechselnden politischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen betroffen seien, die sich über Einzelaspekte hinaus auf die generelle Fähigkeit oder Bereitschaft auswirkten, den Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Systems zu entsprechen. Die Anordnung, ab sofort und für einen nicht näher bestimmten beziehungsweise begrenzten Zeitraum keinerlei Rücküberstellungen mehr zu akzeptieren, stelle einen sämtliche Fälle von Rücküberstellungen nach Italien in Dublin-Verfahren gleichermaßen entscheidungserheblich betreffenden Umstand dar, dessen Berücksichtigung in allen anhängigen Verfahren geboten sei. In die erst im April 2023 ergangene angegriffene Entscheidung des VG Schwerin hätte diese Erkenntnislage einbezogen werden müssen.

Keine systemischen Schwachstellen in Litauen

Derzeit gibt es keine wesentlichen Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Litauen systemische Schwachstellen aufweisen, die für Dublin-Rückkehrer die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen, meint das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 14. August 2023 (Az. 22 K 279/22 A). Aktuell vorliegende Erkenntnismittel zeigten, dass Berichte, die sich vornehmlich auf das zweite Halbjahr 2021 und die erste Jahreshälfte 2022 beziehen würden, wegen der zwischenzeitlich erheblich gesunkenen Zahl der Schutzsuchenden in Litauen, der nunmehr in Kraft getretenen Änderungen des litauischen Ausländergesetzes sowie der Beendigung des Ausnahmezustands nicht mehr die gegenwärtigen Zustände widerspiegelten.

Zweite Tatsachenrevision beim Bundesverwaltungsgericht

In einer Pressemitteilung vom 18. August 2023 informiert das Bundesverwaltungsgericht über den Eingang der zweiten Tatsachenrevision nach Inkrafttreten des neuen § 78 Abs. 8 AsylG Anfang des Jahres. In dem Verfahren geht es um die Frage, ob ein erwerbsfähiger, gesunder und durchsetzungsfähiger junger Mann, der keiner vulnerablen Personengruppe angehört, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen der dortigen humanitären Situation der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hat die Revision als Berufungsgericht zugelassen, da es in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan von deren Beurteilung durch den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, das Sächsische Oberverwaltungsgericht und das Hamburgische Oberverwaltungsgericht abweicht. Das Revisionsverfahren wird beim BVerwG unter dem Aktenzeichen 1 C 12.23 geführt.

Begriff des „faktischen Inländers“ nicht revisionserheblich

Das Bundesverwaltungsgericht hält die Frage, ob ein seit seiner Geburt in Deutschland lebender Ausländer als faktischer Inländer anzusehen ist, sich hieraus ein besonderer Schutzstatus ergibt und ob zudem eine besondere Verwurzelung im Bundesgebiet und somit ein besonderer Schutzstatus gem. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK vorliegt, in einem Revisionsverfahren für nicht entscheidungserheblich und hat eine Nichtzulassungsbeschwerde in seinem Beschluss vom 2. August 2023 (Az. 1 B 20.23) dementsprechend verworfen. Außerdem sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass eine Ausweisung sogenannter „faktischer Inländer“ nicht von vornherein unzulässig sei. Vielmehr sei der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergehe, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits Rechnung zu tragen.