Der Schengenraum, das „Europa ohne Grenzkontrollen“, wurde in den vergangenen Jahren jedenfalls in Teilen von einem Raum abgelöst, in dem wieder Binnengrenzkontrollen stattfinden. Dass faktisch dauerhafte Binnengrenzkontrollen gegen Europarecht verstoßen, hatte der Europäische Gerichtshof bereits 2022 festgestellt (Urteil vom 26. April 2022, Rs. C-368/20 u. C-369/20), geändert hat sich an dieser Praxis aber nichts.
In einem nun vom EuGH mit Urteil vom 21. September 2023 (Rs. C-143/22) entschiedenen Verfahren ging es um die Frage, ob Drittstaatsangehörigen, die ohne Aufenthaltstitel bei einer Kontrolle an einer Binnengrenze aufgegriffen werden, die Einreise verweigert werden darf, ohne dass parallel die Bestimmungen der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG Anwendung finden. Diese Frage hat der EuGH in seinem Urteil klar verneint: Eine Einreiseverweigerung in analoger Anwendung von Art. 14 Schengener Grenzkodex sei möglich, gleichwohl müssten die Vorgaben aus der EU-Rückführungsrichtlinie eingehalten werden.
Was das in der Praxis bedeuten soll und bedeuten wird, erschließt sich aus dem EuGH-Urteil nicht unmittelbar. Erste Reaktionen sprechen sowohl davon, dass „keine unmittelbare Abschiebung“ (in den Herkunftsstaat?) mehr möglich sei, als auch davon, dass Zurückweisungen an Binnengrenzen in Folge des Urteils nun „regelmäßig rechtswidrig“ seien, und die Betroffenen „an der Grenze nicht direkt ins Nachbarland zurückgeschickt“ (a.a.O.) werden dürften. Beides geht ein wenig am Kern des Themas vorbei bzw. ist so nicht richtig.
Ein Mitgliedstaat, der einen Drittstaatsangehörigen ohne Aufenthaltstitel an einer Binnengrenze aufgegriffen hat, will diesen Drittstaatsangehörigen in aller Regel nicht in seinen Herkunftsstaat abschieben, auch wenn das die Verpflichtung ist, die die Rückführungsrichtlinie an sich vorsieht. Eine solche Abschiebung wäre im Wege einer unmittelbaren Direktabschiebung praktisch ohnehin selten oder nie möglich, ein Rückführungsverfahren würde im Übrigen den Verfahrensvorgaben der Rückführungsrichtlinie unterliegen und wäre für den Mitgliedstaat somit aufwendig. Was der Mitgliedstaat stattdessen erreichen will, ist eine Zurückschiebung des Drittstaatsangehörigen in den anderen Mitgliedstaat, von dem aus der die Binnengrenze überquert hat. Eine solche Zurückschiebung ist nach dem EuGH-Urteil nur noch möglich, sofern die Rückführungsrichtlinie das erlaubt: Tut sie das nicht, muss der Mitgliedstaat, der den Drittstaatsangehörigen aufgegriffen hat, trotz Einreiseverweigerung ein Rückführungsverfahren durchführen.
Die Rückführungsrichtlinie erlaubt nun durchaus in bestimmten Fällen, dass ein Mitgliedstaat, in dem sich ein ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger aufhält, ein Rückführungsverfahren vermeiden kann, nämlich insbesondere in den von Art. 6 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie geregelten Fällen. Danach muss keine Rückkehrentscheidung ergehen, wenn der Drittstaatsangehörige von einem anderen Mitgliedstaat „aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen“ wieder aufgenommen wird. Die zahlreichen bilateralen Rückübernahmeabkommen Deutschlands, darunter mit allen Nachbarländern außer Polen, sowie vermutlich auch das Übereinkommen zwischen den Regierungen der Schengener Staaten und der Regierung der Republik Polen betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 29. März 1991, dürften also eine Renaissance erfahren. Der Generalanwalt beim EuGH hatte in seinen Schlussanträgen vom 30. März 2023 übrigens auf Art. 6 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie hingewiesen, der EuGH hat das in seinem Urteil nicht getan.