Ausgabe 118 • 20.10.2023

Umfangreiche Passagen

Es geht um die Menschenrechtssituation in Lettland, Malta und Indien, die Voraussetzungen der Kostenhaftung bei gescheiterten Dublin-Überstellungen, die Übermittlung von Schriftsätzen in letzter Sekunde und um eine Verfassungsbeschwerde gegen Wohnungsdurchsuchungen in Erstaufnahmeeinrichtungen.

Pauschale und menschenrechtswidrige Inhaftierung in Lettland

Das Verwaltungsgericht Braunschweig lässt in seinem Beschluss vom 6. Oktober 2023 (Az. 2 B 217/23) kein gutes Haar am lettischen Asylsystem und sieht erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass lettische Gerichte bei der Entscheidung über die Inhaftierung von Asylantragstellern keine individualisierte Prüfung von Haftgründen sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durchführen und die besondere Schutzbedürftigkeit minderjähriger Asylsuchender nicht hinreichend berücksichtigen. Asylsuchenden drohe bei einer Rückführung nach Lettland im Rahmen des Dublin-Verfahrens (erneute) Inhaftierung aufgrund der Annahme von Fluchtgefahr. Die Haftbedingungen in den Hafteinrichtungen für Asylbewerber in Lettland verstießen gegen die EU-Aufnahmerichtlinie und gegen die Anforderungen des EGMR, unter anderem wegen der Beschränkung der Kontaktaufnahme von Asylbewerbern nach außen, wegen der Beschränkung des Zugangs von NGOs und Rechtsbeiständen zu den Einrichtungen und wegen der nicht kindgerechten Unterbringung minderjähriger Asylbewerber.

Menschenrechtswidrige Inhaftierung von minderjährigen Schutzsuchenden in Malta

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 17. Oktober 2023 (Az. 12427/22) festgestellt, dass Malta die Rechte eines minderjährigen Schutzsuchenden aus den Art. 3 (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung), Art. 5 (Recht auf Freiheit) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der EMRK verletzt hat, indem es ihn nach seiner Ankunft in Malta Ende 2021 und Anfang 2022 über einen Zeitraum von über sieben Monaten inhaftierte und dabei unter anderem seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht berücksichtigte.

Kein Kostenbescheid nach gescheiterter rechtswidriger Dublin-Zurückschiebung

Die Bundespolizei bleibt auf den Kosten für eine im Jahr 2012 gescheiterte Dublin-Zurückschiebung nach Polen sitzen, sagt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 29. August 2023 (Az. 1 B 17.23), in dem es eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. März 2023 (Az. OVG 6 B 12/22) zurückgewiesen hat. Beide Entscheidungen sind wegen der ausführlichen Darstellungen der Voraussetzungen für eine Kostenhaftung bei gescheiterten Dublin-Überstellungen lesenswert. Inhaltlich ging es in der Nichtzulassungsbeschwerde unter anderem darum, ob das OVG einen Beweisantrag der Bundespolizei als unzulässigen Ausforschungsbeweis zurückweisen durfte (durfte es), ob es Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts ist, aus „umfangreichen Passagen“ seiner Entscheidungen einen in der Nichtzulassungsbeschwerde in den Blick genommenen Rechtssatz herauszufiltern (ist es nicht), ob Fragen zur Auslegung und Anwendung ausgelaufenen Rechts (hier: der Dublin-II-Verordnung) einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung verleihen können (regelmäßig nicht) und ob in einem Revisionsverfahren auch solche Rechtsfragen klärungsfähig sind, die die Vorinstanz gar nicht entschieden hat (sind sie nicht).

Erniedrigende Behandlung von alleinstehenden Frauen mit Kleinkindern in Indien

Eine alleinerziehende Frau mit kleinen Kindern, die sich von ihrem Ehemann getrennt hat, wird in Indien aufgrund der gesellschaftlich verwurzelten Vorurteile ihr gegenüber keine Möglichkeit haben, für sich und ihre Kinder eine eigene bescheidene Existenz aufzubauen, sagt das Verwaltungsgericht Magdeburg in seinem Urteil vom 9. Oktober 2023 (Az. 5 A 40/22 MD) und hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, subsidiären Schutz zuzuerkennen. Aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen bleibe die soziale Realität von Frauen in Indien von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt. Materielle Benachteiligung, Ausbeutung, Unterdrückung und fehlende sexuelle Selbstbestimmung prägten häufig den Alltag von Frauen. Gewalt, Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gegen Frauen seien in Indien in nahezu allen Landesteilen und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten weiterhin ein großes Problem.

Zeitliche Sicherheitsreserve bei Übermittlung fristgebundener Schriftsätze

In dem Tatsachenrevisionsverfahren zu Italien, in dem das Bundesverwaltungsgericht vor Kurzem die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist gerügt hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 115), liegt nun der Volltext des Beschlusses des Gerichts vom 25. September 2023 (Az. 1 C 10.23) vor. Das BVerwG äußert sich darin zum Erfordernis einer zeitlichen Sicherheitsreserve bei Übermittlung von Schriftstücken im elektronischen Rechtsverkehr kurz vor Fristablauf und meint, dass auch im elektronischen Rechtsverkehr mit einer nicht jederzeit reibungslosen Übermittlung gerechnet werden müsse. Dem sei durch eine zeitliche Sicherheitsreserve bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze Rechnung zu tragen. Die entsprechenden anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das besondere elektronische Anwaltspostfach entsprächen dabei denen bei der Übersendung von Schriftsätzen per [„bei“ 🙂] Telefax.

Verfassungsbeschwerde gegen Wohnungsdurchsuchung in Aufnahmeeeinrichtung

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und Pro Asyl informieren in einer Pressemitteilung vom 19. Oktober 2023 darüber, dass sie für einen Betroffenen Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2023 (Az. 1 C 10.22) erhoben haben. In dem Verfahren geht es darum, ob ein Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung zum Zwecke der Ergreifung eines abzuschiebenden Ausländers auch ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss betreten werden darf. Das Bundesverwaltungsgericht hatte das bejaht (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 115), weil eine Durchsuchung, die eine richterliche Anordnung erforderlich mache, erst dann vorliege, wenn zusätzlich zum bloßen Betreten eines Zimmers die Suche nach Personen und Gegenständen hinzukomme, um etwa „Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften“. Dagegen wendet sich die 78-seitige Verfassungsbeschwerde, die dem Bundesverwaltungsgericht vorwirft, den grundrechtlichen Schutz der Wohnung „entkernt“ zu haben.

ISSN 2943-2871