Ausgabe 124 • 8.12.2023

Verfahrensökonomie

Es ist sozusagen Visumwoche im HRRF-Newsletter - gleich drei Entscheidungen beschäftigen sich mit den Tiefen und Untiefen der Visumbeantragung und -erteilung. Außderdem geht es um Schutz für ukrainische Wehrdienstverweigerer, Widerrufsverfahren, eine Zuständigkeit des Bundesamts ohne Asylantrag, den „Verbrauch“ einer Abschiebungsandrohung und Ausschluss vom internationalen Schutz.

Nachholung des Visumverfahrens kann Grundrechte verletzen

In seinem Beschluss vom 2. November 2023 (Az. 2 BvR 441/23) hat sich das Bundesverfassungsgericht dazu geäußert, unter welchen Voraussetzungen es einem Ausländer zuzumuten ist, Deutschland zur Durchführung eines Visumverfahrens in seinem Heimatland zu verlassen und damit eine wenigstens vorübergehende Trennung von seinen hier aufenthaltsberechtigten Kindern hinzunehmen. Das Verwaltungsgericht Würzburg und der Verwaltungsgerichtshof München hielten eine solche vorübergehende Trennung im entschiedenen Verfahren für zumutbar, das Bundesverfassungsgericht sah in der von diesen Gerichten vorgenommenen Rechtsauslegung einen zweifachen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 und 2 GG (Schutz von Ehe und Familie, Elternrecht).

Zum einen hätten die Fachgerichte schon nicht dargelegt, warum die Nachholung des Visumverfahrens für einen Familiennachzug gerade erforderlich gewesen sein solle. Im entschiedenen Verfahren hätte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG im Raum gestanden, für die das Visumerfordernis nicht gelte. Insoweit hätte es näherer Erläuterung bedurft, ob und weshalb es gleichwohl im Lichte des Art. 6 Absätze 1 und 2 GG notwendig gewesen sei, den Beschwerdeführer auf das Visumverfahren für den von ihm begehrtem Familiennachzug zu verweisen.

Zum anderen hätten beide Fachgerichte nicht auf Grundlage einer tragfähigen Prognose entschieden, dass die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge haben werde. Der Verwaltungsgerichtshof habe lediglich ausgeführt, dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis „in Betracht“ komme, weil die Ausländerbehörde vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgehe. Dies genüge nicht, zumal nicht die Ausländerbehörde über die Erteilung des Visums zu entscheiden habe, sondern die Auslandsvertretung. Ob der Verwaltungsgerichtshof selbst vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte ausgehe, lasse sich seinem Beschluss nicht eindeutig entnehmen, es sei mangels näherer Subsumtion auch nicht erkennbar, worauf der Verwaltungsgerichtshof diese Annahme stützen würde. Infolgedessen begründe der Verwaltungsgerichtshof auch nicht hinreichend, weshalb die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegenstehen werde, und fehle es im Hinblick auf das Wohnraumerfordernis an einer hinreichenden Begründung der Annahme, dass „nicht zwingend“ davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer seine derzeitige Wohnung aus finanziellen Gründen aufgeben müsse.

Unsicherheit bei Nachholung des Visumverfahren ist hinzunehmen

Wegen der o.g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewissermaßen überholt ist der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis vom 15. November 2023 (Az. 2 B 135/23), in dem das OVG die Zumutbarkeit einer Nachholung des Visumverfahrens auch dann bejaht, wenn unklar ist, ob der Betroffene nach seiner Ausreise tatsächlich ein Visum erhalten wird. Es liege in der Natur der Sache, so das OVG, dass ein Rest von Unsicherheit verbleibe, wie die deutsche Botschaft tatsächlich entscheiden werde. Diese Unsicherheit sei vom Betroffenen hinzunehmen, weil er selbst es ja in der Hand habe, das Visumverfahren so kurz wie möglich zu halten. In dem Verfahren hatte das Auswärtige Amt übrigens eine beschleunigte Bearbeitung des Visumantrags in Aussicht gestellt, wenn nur zuvor der Betroffene das von ihm eingelegte Rechtsmittel „aus Gründen der Verfahrensökonomie“ zurücknehme.

Registrierung für Botschaftstermin kann Visumantrag darstellen

Normalerweise vermeidet das Auswärtige Amt, vom Verwaltungsgericht Berlin zur Erteilung von Visa verurteilt zu werden (siehe HRRF-Newsletter Nr. 17, die sogenannte Berliner Erpressung), in dem Fall des Urteils des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. November 2023 (Az. 9 K 445/21 V) hat das nicht geklappt. Auch hier hatte das Auswärtige Amt einen Vergleich vorgeschlagen und im Gegenzug die Erteilung von Visa in Aussicht gestellt, die Kläger hatten den Vergleich aber offensichtlich als nicht ausreichend betrachtet und haben nun Recht bekommen. Interessant an der Entscheidung ist nicht so sehr die Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zum maßgeblichen Alter bei der Beantragung von Visa zum Familiennachzug als vielmehr die Ansicht des Gerichts dazu, ab wann von einem gestellten Antrag auf Visumerteilung auszugehen ist: Hier sei ausnahmsweise bereits der Registrierung für einen Termin bei der Deutschen Botschaft Islamabad die Bedeutung einer Antragstellung zuzumessen, weil das Auswärtige Amt im konkreten Fall durch seine Angaben im Registrierungsverfahren gegenüber den Klägern den falschen Anschein erweckt habe, dass eine (weitere) formlose Antragstellung nicht möglich sei, die Kläger vielmehr die Wartezeit (von 18 Monaten!) abwarten müssten, um ihre Antragsunterlagen einzureichen.

Kein Schutz für ukrainischen Wehrdienstverweigerer

Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hält die Furcht vor Strafverfolgung und Inhaftierung eines ukrainischen Staatsangehörigen nach der Verweigerung des Wehrdienstes in der Ukraine in seinem Beschluss vom 20. November 2023 (Az. 4 LB 466/20 OVG) für nicht asylrelevant. Nach den allgemeinen Haftbedingungen in der Ukraine sei es zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Strafgefangener während seiner Haft in der Ukraine einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sei, dafür gäbe es im entschiedenen Verfahren aber keine Hinweise. In den westukrainischen Gebieten, aus denen der Kläger stamme und die das Gericht daher als allein relevant zur Beurteilung der Kriegsauswirkungen ansah, lägen ohne das Hinzutreten individuell gefahrerhöhender Umstände keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass einem ukrainischen Staatsangehörigen eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts drohe. Der Schutzbereich schließlich von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), aus dem ein Recht auf einen Wehrersatzdienst abgeleitet werde, sei hier nicht berührt, weil der Kläger den Wehrdienst gar nicht aus Gewissensgründen verweigert habe, sondern nur deswegen, weil er Angst habe, getötet zu werden oder andere Menschen töten zu müssen. Das stelle zwar eine nachvollziehbare Motivation dar, diene aber in erster Linie dem Selbstschutz, statt von grundsätzlichen moralischen, „sittlichen“ Bedenken geleitet zu sein.

Kein Widerruf bei bloßer Unerreichbarkeit

Allein aus dem Umstand, dass ein Schutzberechtigter innerhalb Deutschlands unbekannt verzogen ist, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass der Schutzberechtigte den ihm gewährten Schutz nicht mehr benötigt und diesen offensichtlich auch nicht weiter in Anspruch nehmen will, sagt das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 15. November 2023 (Az. 10 A 2641/23). Es gebe auch keine Grundsätze des Anscheinsbeweises, dass aus vergeblichen Bemühungen einer Ausländerbehörde um Kontaktaufnahme zu folgern sein solle, dass der Schutzberechtigte frewillig in sein Herkunftsland zurückgekehrt sei.

BAMF-Zuständigkeit auch ohne Asylantrag

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg erläutert in seinem Beschluss vom 14. November 2023 (Az. 13 ME 177/23), dass es einer Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch dann verwehrt sein kann, über das Vorliegen eines nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu entscheiden, wenn ein Ausländer noch nie einen Asylantrag gestellt hat. Mache ein Ausländer der Sache nach materielle Asylgründe geltend, sei er auf die Durchführung eines Asylverfahrens zu verweisen. Der Ausländer habe kein Wahlrecht zwischen asyl- und ausländerrechtlichem Schutzbegehren und es stehe weder der Ausländerbehörde noch den Verwaltungsgerichten in aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu, ohne eine positive Entscheidung des Bundesamts von einem nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG auszugehen.

Kein Verbrauch der Abschiebungsandrohung im laufenden Asylverfahren

Eine vom Bundesamt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung ist nicht verbraucht oder sonst erledigt, wenn der vollziehbar ausreisepflichtige Asylbewerber vor Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsandrohung abgeschoben wird und danach unerlaubt ins Bundesgebiet zurückkehrt, sagt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 17. November 2023, Az. 12 S 986/23. Das folge aus einer analogen Anwendung von § 71 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 AsylG. Die Argumentation mit einer Anwendung von Bestimmungen über Folgeverfahren ist insofern lustig, als der VGH gleichzeitig die Überlegung, dass im Fall der Ablehnung eines Folgeantrags die Rückführungsrichtlinie entgegen § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG den Erlass einer neuen Abschiebungsandrohung erfordern könnte, mit der Erwägung zurückweist, dass ja schließlich gar kein Folgeantrag gestellt worden sei.

Ausschluss von internationalem Schutz bei Geheimdiensttätigkeit

Das Verwaltungsgericht Göttingen berichtet in einer Pressemitteilung vom 5. Dezember 2023 über sein Urteil vom 16. November 2023 (Az. 4 A 161/18), in dem es um den Asylantrag eines ehemaligen afghanischen Geheimdienstmitarbeiters ging. Allein die berufliche Tätigkeit des Klägers als Offiziers im afghanischen Geheimdienst in den Jahren 1984 bis 1992 reiche aus, so das Gericht, um die Ausschlussgründe vom internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 2 AsylG zu verwirklichen. Es seien vermutlich alle Unteroffiziere und Offiziere des afghanischen Geheimdienstes persönlich an Verhaftungen, Verhören, Folter und sogar der Hinrichtung von Verdächtigten beteiligt gewesen.

Vermischtes vom EGMR

Die Unterbringung einer besonders schutzbedürftigen jungen Frau in einem Aufnahmelager auf der griechischen Insel Samos im Jahr 2018 hat gegen Art. 3 und Art. 13 EMRK verstoßen, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 30. November 2023 (Az. 2080/19, D.S. gg. Griechenland); die griechischen Behörden hätten nicht alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu gewährleisten; die Betroffene habe außerdem über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügt. Die Unterbringung in der ungarischen Transitzone Röszke in den Jahren 2018 und 2019 hat gegen Art. 3 und Art. 5 EMRK verstoßen, meint der EGMR in seinem Urteil vom 30. November 2023 (Az. 17089/19, S.AB. u. S.AR. gg. Ungarn), und ein 2017 eingeleitetes Ausweisungsverfahren in Nordmazedonien gegen einen Flüchtling aus dem Kosovo hat gegen Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK verstoßen, der verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern enthält, sagt der EGMR in seinem Urteil vom 30. November 2023 (Az. 64163/19, S.B. gg. Nordmazedonien).

HRRF-Monatsübersicht für November 2023 verfügbar

Die HRRF-Monatsübersicht für November 2023 ist zum Download verfügbar und bietet auf sechs Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat November 2023 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.

ISSN 2943-2871