Die flüchtlingspolitische Debatte der vergangenen und wohl auch kommenden Wochen ist eine Debatte, die immerhin auch unter Bezugnahme auf eine Reihe flüchtlingsrechtlicher Gerichtsentscheidungen geführt wird. Solche Bezugnahmen liegen nahe und sind sinnvoll, wenn auf die rechtlichen Vorgaben hingewiesen werden soll, die sich aus den Entscheidungen für die Ausgestaltung des Flüchtlingsschutzes ergeben. Bezugnahmen finden sich aber auch, um den trotz solcher Entscheidungen angeblich noch bestehenden politischen Gestaltungsspielraum hervorzuheben oder um gar eine angebliche Signalwirkung zu betonen, die von einzelnen Entscheidungen ausgehen soll. Eine kurze Übersicht einiger derzeit diskutierter Themen (und Begriffe) samt der dazugehörenden Leitentscheidungen, von „Afghanistan“ bis „Zurückweisung“:
In die Beurteilung der Situation von Schutzberechtigten in Griechenland durch die deutsche Rechtsprechung kommt offenbar Bewegung. Bislang waren deutsche Obergerichte einmütig davon ausgegangen, dass in Griechenland anerkannte Flüchtlinge dort ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigen könnten, nämlich das OVG Münster (Urteil vom 21. Januar 2021, Az. 11 A 1564/20.A), das OVG Lüneburg (Urteil vom 19. April 2021, Az. 10 LB 244/20), das OVG Bremen (Urteil vom 16. November 2021, Az. 1 LB 371/21), das OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 23. November 2021, Az. OVG 3 B 53.19), der VGH Mannheim (Urteil vom 27. Januar 2022, Az. A 4 S 2443/21), das OVG Bautzen (Urteil vom 27. April 2022, Az. 5 A 492/21 A) und das OVG Saarlouis (Urteil vom 15. November 2022, Az. 2 A 81/22).
Der Verwaltungsgerichtshof Kassel sieht das in seinen Urteilen vom 6. August 2024 (Az. 2 A 1131/24.A und 2 A 489/23.A), über die er auch in einer Pressemitteilung vom 2. September 2024 berichtet, nun anders. Jedenfalls männlichen anerkannten Schutzberechtigten, die allein nach Griechenland zurückkehrten und jung, gesund und arbeitsfähig seien, drohe dort keine menschenrechtswidrige Behandlung durch systemische Schwachstellen im griechischen Aufnahmesystem. Angehörige dieser Gruppe könnten die erheblichen Defizite im griechischen Aufnahmesystem während der ersten sechs Monate im Allgemeinen durch Eigeninitiative bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Arbeit überwinden. Für Schutzberechtigte, bei denen individuelle Besonderheiten vorliegen, etwa wenn sie aufgrund von Krankheit nicht erwerbsfähig sind, soll das aber nicht gelten, so der VGH in einem weiteren Urteil vom selben Tag (Az. 2 A 1132/24.A). Der VGH hat die Tatsachenrevision gemäß § 78 Abs. 8 AsylG gegen alle drei Urteile zugelassen, die in einem Verfahren auch bereits eingelegt wurde, wie das Bundesverwaltungsgericht in einer Pressemitteilung vom 4. September 2024 berichtet.
Parallel dazu mehren sich auch in der erstinstanzlichen Rechtsprechung Entscheidungen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Schutzberechtigten in Griechenland für unwahrscheinlich genug halten, wenn es um „junge, gesunde, arbeitsfähige, körperlich belastbare und mit hinreichender Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative ausgestattete Männer“ geht. Das meint etwa das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 15. August 2024 (Az. 12 A 3228/24), das davon ausgeht, dass Betroffene in Griechenland einer illegalen Beschäftigung nachgehen könnte und das zwar auch nicht weiß, ob es in Griechenland genügend zumindest informelle Unterkunftsmöglichkeiten für Schutzberechtigte gibt, Zweifel aber zulasten der Betroffenen wertet. Zum gleichen Ergebnis kommen aktuell etwa das Verwaltungsgericht Ansbach (Beschluss vom 7. August 2024 (Az. AN 17 S 24.50438)), das Verwaltungsgericht Würzburg (Beschluss vom 26. August 2024 (Az. W 4 S 24.31508)) und das Verwaltungsgericht Halle (Saale), dessen Beschluss vom 26. August 2024 (Az. 4 B 188/24 HAL) optimistisch mit den Worten endet, dass der Betroffene jedenfalls nach einigen Jahren in der Lage sein werde, in Griechenland eine Wohnung legal anzumieten und einer legalen Beschäftigung nachzugehen.
Anders sieht es immer noch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 23. August 2024 (Az. 18a L 1299/24.A). Angesichts der auch unter Zugrundelegung aktueller Erkenntnismittel weiterhin bestehenden erheblichen bürokratischen Hürden sowie mangelnder staatlicher Unterstützung sei nach wie vor grundsätzlich anzunehmen, dass Schutzberechtigte in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage seien, eine gesicherte Unterkunft zu finden und ihren Lebensunterhalt durch eine legale Beschäftigung oder staatliche Unterstützung zu sichern. Es sei unzumutbar, Schutzberechtigte bis zu einem etwaigen Übertritt in ein legales Beschäftigungsverhältnis auf eine möglicherweise mehrere Jahre andauernde Tätigkeit in der sogenannten „Schattenwirtschaft“ zu verweisen, und nicht ersichtlich, wie ein Verweis Schutzberechtigter auf in Griechenland bestehende informelle Migrantennetzwerke und etwaige persönliche Kontakte allein hierdurch mit der gebotenen Sicherheit nachhaltigen sowie gesicherten Zugang zu Wohnraum sowie zu einem legalen Beschäftigungsverhältnis verschaffen könnte.
Es ist nicht neu, dass in konservativen Medien zum munteren Halali auf die Rechte Schutzsuchender geblasen wird, ein besonders schönes Beispiel liefert jetzt aber die Welt am Sonntag vom 1. September 2024 (Paywall), die in einem (sich gefühlt alle zwei Wochen wiederholenden) Themenschwerpunkt zur Abschaffung des Asylrechts einen Verwaltungsrichter zitiert, der „nicht namentlich genannt werden möchte“: Es sei „völlig aussichtslos, dass Dublin-Überstellungen irgendwann einmal in nennenswerter Zahl stattfinden, solange es Rechtsschutz gibt“, weil nicht „die Kleinigkeiten“ das Problem seien, sondern „das System“. Als ob auch dieser Verwaltungsrichter es nicht besser wüsste: Das Problem ist nicht irgendein „System“, sondern eine (aus verschiedenen Gründen) in Deutschland wie in anderen EU-Staaten rechtswidrige Behördenpraxis, die Schutzsuchenden ihre Rechte vorenthält. Wer die derzeit rechtswidrigen Zustände legalisieren will, der soll es auch sagen.
Das immerhin tut Daniel Thym in seinem Beitrag „Zurück zu den Ursprüngen“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. September 2024 (Paywall). Er träumt einen (einigermaßen dystopischen) Traum von der guten alten Zeit, in der deutsche und europäische Gerichte noch nicht damit begonnen hatten, aus Menschen- und Grundrechten mehr und mehr Rechte für Schutzsuchende abzuleiten. In seiner romantisch verklärten Vision einer Rückkehr zu dieser Zeit akzeptiert die Rechtsprechung „abgeschwächte Verfahrensgarantien und sogar Pushbacks ganz ohne Verfahren“ und damit die Abschaffung von Einzelfallprüfungen mit Individualrechtsschutz. Eine Realisierung dieser Vision hält Thym für alternativlos, weil sie ansonsten früher oder später (hier schlägt kulturpessimistische Schwarzmalerei durch) von noch radikaleren Kräften realisiert würde, und zwar dadurch, dass diese Kräfte die Gerichte (und vermutlich das Recht insgesamt) ignorieren würden. Es ist aus seiner Sicht offenbar anzustreben, diesen Kräften zuvorzukommen und ihre Pläne für sie zu verwirklichen.