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Ausgabe 161 • 6.9.2024

Gesamtstaatliche Kraftanstrengung

Ausgerechnet der Bundespräsident fordert eine „gesamtstaatliche Kraftanstrengung“ für eine andere Migrationspolitik, die bestimmte politische Kreise und Medien nur zu gerne bereits erbringen. Die politische Debatte wird interessanterweise allerorten gerade auch mit flüchtlingsrechtlichen Gerichtsentscheidungen geführt, die darum in dieser Newsletter-Ausgabe gesammelt vorgestellt werden. Daneben geht es in dieser Woche um die von mehr und mehr deutschen Verwaltungsgerichten bejahte Zulässigkeit der Abschiebung von Schutzberechtigten nach Griechenland sowie um konservative Planspiele für eine Abschaffung des Individualrechtsschutzes beim Flüchtlingsschutz.

Anderswo im Internet

Leitentscheidungen im aktuellen politischen Diskurs

Die flüchtlingspolitische Debatte der vergangenen und wohl auch kommenden Wochen ist eine Debatte, die immerhin auch unter Bezugnahme auf eine Reihe flüchtlingsrechtlicher Gerichtsentscheidungen geführt wird. Solche Bezugnahmen liegen nahe und sind sinnvoll, wenn auf die rechtlichen Vorgaben hingewiesen werden soll, die sich aus den Entscheidungen für die Ausgestaltung des Flüchtlingsschutzes ergeben. Bezugnahmen finden sich aber auch, um den trotz solcher Entscheidungen angeblich noch bestehenden politischen Gestaltungsspielraum hervorzuheben oder um gar eine angebliche Signalwirkung zu betonen, die von einzelnen Entscheidungen ausgehen soll. Eine kurze Übersicht einiger derzeit diskutierter Themen (und Begriffe) samt der dazugehörenden Leitentscheidungen, von „Afghanistan“ bis „Zurückweisung“:

  • Afghanistan. Abschiebungen nach Afghanistan sind nach der überwiegenden Ansicht deutscher Obergerichte derzeit nicht möglich, weil selbst junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende afghanische Männer, die im heimischen Kulturkreis sozialisiert wurden und mindestens eine der Landessprachen sprechen, bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ohne Weiteres zur Sicherung ihres Existenzminimums in der Lage sein würden, siehe das (nur im konkreten Verfahren zu einem anderen Ergebnis kommende) Urteil des OVG Hamburg vom 23. Februar 2022 (Az. 1 Bf 282/20.A), das Urteil des OVG Bautzen vom 10. November 2022 (Az. 1 A 1081/17.A) und das Urteil des VGH Mannheim vom 22. Februar 2023 (Az. A 11 S 1329/20); anders sieht es (nur) das OVG Greifswald in seinem Urteil vom 24. Mai 2023 (Az. 4 LB 443/18 OVG), eine gegen dieses Urteil eingelegte Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde im Januar 2024 zurückgenommen.
  • Aufnahmestopp. Ein Aufnahmestopp für Flüchtlinge, der es Schutzsuchenden (ob nur aus bestimmten Herkunftsländern oder generell) unmöglich macht, im Hoheitsgebiet oder an der Grenze eines EU-Mitgliedstaats einen Asylantrag zu stellen, verstößt gegen die EU-Asylverfahrensrichtlinie, so die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020 (Rs. C-808/18) und vom 30. Juni 2022 (Rs. C-72/22 PPU).
  • Auslagerung. Die Auslagerung von Asylverfahren in und die Schutzgewährung durch Drittstaaten, so wie die britische Regierung es 2023 in ihrem Ruanda-Modell vorsah, verstößt praktisch immer gegen das unter anderem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention folgende Non-Refoulement-Gebot, was auch der britische Supreme Court in seinen Urteilen vom 15. November 2023 (Az. 2023/0093, 2023/0094, 2023/0095, 2023/0096, 2023/0097 und 2023/0098) so gesehen hat.
  • Ausreisearrest. Ein zeitlich unbegrenzter Ausreisearrest, der als Einrichtung „mit drei Wänden“ konzipiert und nur in Richtung Ausland offen ist, stellt eine Freiheitsentziehung dar, wenn Betroffene ihn in keine Richtung rechtmäßig verlassen können, so der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Mai 2020 (Rs. C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU), das kann etwa der Fall sein, wenn die Einreise in einen Nachbarstaat von diesem sanktioniert würde (z.B. als illegale Einreise) und wenn auch sonst kein Staat zur Aufnahme der Betroffenen bereit wäre.
  • Binnengrenzkontrollen. Die Einführung (faktisch) dauerhafter Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen durch EU-Mitgliedstaaten verstößt gegen EU-Recht, nämlich gegen den (unlängst überarbeiteten) Art. 25 des Schengener Grenzkodex, siehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. April 2022 (Rs. C‑368/20, C‑369/20), außerdem das Urteil des VG München vom 31. Januar 2024 (Az. M 23 K 22. 3422).
  • Handgeld. Ein Handgeld wird bei Abschiebungen unter anderem wegen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 2022 (Az. 1 C 10.21) gewährt, weil solche Rückkehrhilfen Betroffene in die Lage versetzen, ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen und eine Verelendung im Herkunftsland unwahrscheinlicher machen, was für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes vorzunehmende Gefahrenprognose relevant ist.
  • Leistungskürzungen. Zu Kürzungen von Sozialleistungen (ggf. bis auf Null) sagt das Bundesverfassungsgericht, dass das Grundgesetz ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet und dass der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren darf (Urteil vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11), er allerdings von Betroffenen verlangen darf, an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen (Urteil vom 19. Oktober 2022, Az. 1 BvL 3/21), solange er Mitwirkungspflichten und daran anknüpfende Sanktionen verhältnismäßig ausgestaltet (Urteil vom 5. November 2019, Az. 1 BvL 7/16), was bei der Erzwingung einer freiwilligen Ausreise durch Hunger sicherlich nicht mehr der Fall wäre.
  • Nationale Notlage. Die gemäß Art. 72 AEUV bestehende Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit kann nicht durch das einseitige Ausrufen einer nationalen Notlage oder durch das bloße Berufen auf diese Bestimmung genutzt werden, sondern ist an strenge Voraussetzungen gebunden, sagt der Europäische Gerichtshof, der das Vorliegen dieser Voraussetzungen noch nie bejaht hat, sondern die entsprechende Argumentation von EU-Mitgliedstaaten stets als Schutzbehauptungen zurückgewiesen hat, unter anderem in seinen Urteilen vom 2. April 2020 (Rs. C-715/17, C-718/17; C-719/17) und vom 17. Dezember 2020 (Rs. C-808/18).
  • Syrien. Abschiebungen nach Syrien hat das OVG Münster in seinem unlängst ergangenen Urteil vom 16. Juli 2024 (Az. 14 A 2847/19.A) nicht für zulässig erklärt, sondern lediglich entschieden, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes, nämlich eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts, für aus Syrien geflüchtete Schutzsuchende nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote liegen dagegen weiterhin vor.
  • Zurückweisung. Die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen an EU-Binnengrenzen verstößt gegen die EU-Rückführungsrichtlinie, sagt der Europäischen Gerichtshof in seinen Urteilen vom 19. März 2019 (Rs. C-444/17) und vom 21. September 2023 (Rs. C‑143/22), jedenfalls wenn nicht bereits vor 2009 existierende bilaterale Rückübernahmeabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten angewandt werden können, und sie verstößt unabhängig davon gegen die Dublin-III-Verordnung und die EU-Asylverfahrensrichtlinie, sofern Betroffene an der Grenze einen Asylantrag stellen, siehe die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Januar 2018 (Rs. C-360/16) und vom 31. Mai 2018 (Rs. C-647/16).

Dublin-Verfahren usw.

Situation von Schutzberechtigten in Griechenland auf dem Prüfstand

In die Beurteilung der Situation von Schutzberechtigten in Griechenland durch die deutsche Rechtsprechung kommt offenbar Bewegung. Bislang waren deutsche Obergerichte einmütig davon ausgegangen, dass in Griechenland anerkannte Flüchtlinge dort ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigen könnten, nämlich das OVG Münster (Urteil vom 21. Januar 2021, Az. 11 A 1564/20.A), das OVG Lüneburg (Urteil vom 19. April 2021, Az. 10 LB 244/20), das OVG Bremen (Urteil vom 16. November 2021, Az. 1 LB 371/21), das OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 23. November 2021, Az. OVG 3 B 53.19), der VGH Mannheim (Urteil vom 27. Januar 2022, Az. A 4 S 2443/21), das OVG Bautzen (Urteil vom 27. April 2022, Az. 5 A 492/21 A) und das OVG Saarlouis (Urteil vom 15. November 2022, Az. 2 A 81/22).

Der Verwaltungsgerichtshof Kassel sieht das in seinen Urteilen vom 6. August 2024 (Az. 2 A 1131/24.A und 2 A 489/23.A), über die er auch in einer Pressemitteilung vom 2. September 2024 berichtet, nun anders. Jedenfalls männlichen anerkannten Schutzberechtigten, die allein nach Griechenland zurückkehrten und jung, gesund und arbeitsfähig seien, drohe dort keine menschenrechtswidrige Behandlung durch systemische Schwachstellen im griechischen Aufnahmesystem. Angehörige dieser Gruppe könnten die erheblichen Defizite im griechischen Aufnahmesystem während der ersten sechs Monate im Allgemeinen durch Eigeninitiative bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Arbeit überwinden. Für Schutzberechtigte, bei denen individuelle Besonderheiten vorliegen, etwa wenn sie aufgrund von Krankheit nicht erwerbsfähig sind, soll das aber nicht gelten, so der VGH in einem weiteren Urteil vom selben Tag (Az. 2 A 1132/24.A). Der VGH hat die Tatsachenrevision gemäß § 78 Abs. 8 AsylG gegen alle drei Urteile zugelassen, die in einem Verfahren auch bereits eingelegt wurde, wie das Bundesverwaltungsgericht in einer Pressemitteilung vom 4. September 2024 berichtet.

Parallel dazu mehren sich auch in der erstinstanzlichen Rechtsprechung Entscheidungen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Schutzberechtigten in Griechenland für unwahrscheinlich genug halten, wenn es um „junge, gesunde, arbeitsfähige, körperlich belastbare und mit hinreichender Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative ausgestattete Männer“ geht. Das meint etwa das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 15. August 2024 (Az. 12 A 3228/24), das davon ausgeht, dass Betroffene in Griechenland einer illegalen Beschäftigung nachgehen könnte und das zwar auch nicht weiß, ob es in Griechenland genügend zumindest informelle Unterkunftsmöglichkeiten für Schutzberechtigte gibt, Zweifel aber zulasten der Betroffenen wertet. Zum gleichen Ergebnis kommen aktuell etwa das Verwaltungsgericht Ansbach (Beschluss vom 7. August 2024 (Az. AN 17 S 24.50438)), das Verwaltungsgericht Würzburg (Beschluss vom 26. August 2024 (Az. W 4 S 24.31508)) und das Verwaltungsgericht Halle (Saale), dessen Beschluss vom 26. August 2024 (Az. 4 B 188/24 HAL) optimistisch mit den Worten endet, dass der Betroffene jedenfalls nach einigen Jahren in der Lage sein werde, in Griechenland eine Wohnung legal anzumieten und einer legalen Beschäftigung nachzugehen.

Anders sieht es immer noch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 23. August 2024 (Az. 18a L 1299/24.A). Angesichts der auch unter Zugrundelegung aktueller Erkenntnismittel weiterhin bestehenden erheblichen bürokratischen Hürden sowie mangelnder staatlicher Unterstützung sei nach wie vor grundsätzlich anzunehmen, dass Schutzberechtigte in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage seien, eine gesicherte Unterkunft zu finden und ihren Lebensunterhalt durch eine legale Beschäftigung oder staatliche Unterstützung zu sichern. Es sei unzumutbar, Schutzberechtigte bis zu einem etwaigen Übertritt in ein legales Beschäftigungsverhältnis auf eine möglicherweise mehrere Jahre andauernde Tätigkeit in der sogenannten „Schattenwirtschaft“ zu verweisen, und nicht ersichtlich, wie ein Verweis Schutzberechtigter auf in Griechenland bestehende informelle Migrantennetzwerke und etwaige persönliche Kontakte allein hierdurch mit der gebotenen Sicherheit nachhaltigen sowie gesicherten Zugang zu Wohnraum sowie zu einem legalen Beschäftigungsverhältnis verschaffen könnte.

Anderswo im Internet

Solange es Rechtsschutz gibt

Es ist nicht neu, dass in konservativen Medien zum munteren Halali auf die Rechte Schutzsuchender geblasen wird, ein besonders schönes Beispiel liefert jetzt aber die Welt am Sonntag vom 1. September 2024 (Paywall), die in einem (sich gefühlt alle zwei Wochen wiederholenden) Themenschwerpunkt zur Abschaffung des Asylrechts einen Verwaltungsrichter zitiert, der „nicht namentlich genannt werden möchte“: Es sei „völlig aussichtslos, dass Dublin-Überstellungen irgendwann einmal in nennenswerter Zahl stattfinden, solange es Rechtsschutz gibt“, weil nicht „die Kleinigkeiten“ das Problem seien, sondern „das System“. Als ob auch dieser Verwaltungsrichter es nicht besser wüsste: Das Problem ist nicht irgendein „System“, sondern eine (aus verschiedenen Gründen) in Deutschland wie in anderen EU-Staaten rechtswidrige Behördenpraxis, die Schutzsuchenden ihre Rechte vorenthält. Wer die derzeit rechtswidrigen Zustände legalisieren will, der soll es auch sagen.

Das immerhin tut Daniel Thym in seinem Beitrag „Zurück zu den Ursprüngen“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. September 2024 (Paywall). Er träumt einen (einigermaßen dystopischen) Traum von der guten alten Zeit, in der deutsche und europäische Gerichte noch nicht damit begonnen hatten, aus Menschen- und Grundrechten mehr und mehr Rechte für Schutzsuchende abzuleiten. In seiner romantisch verklärten Vision einer Rückkehr zu dieser Zeit akzeptiert die Rechtsprechung „abgeschwächte Verfahrensgarantien und sogar Pushbacks ganz ohne Verfahren“ und damit die Abschaffung von Einzelfallprüfungen mit Individualrechtsschutz. Eine Realisierung dieser Vision hält Thym für alternativlos, weil sie ansonsten früher oder später (hier schlägt kulturpessimistische Schwarzmalerei durch) von noch radikaleren Kräften realisiert würde, und zwar dadurch, dass diese Kräfte die Gerichte (und vermutlich das Recht insgesamt) ignorieren würden. Es ist aus seiner Sicht offenbar anzustreben, diesen Kräften zuvorzukommen und ihre Pläne für sie zu verwirklichen.

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