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Ausgabe 43 • 29.4.2022

Ernsthaftes Risiko

Das OVG Bautzen sieht kein ernsthaftes Risiko in Italien, der EuGH sieht Kontrollen an Schengen-Binnengrenzen kritisch, der EGMR weist auf staatliche Sachaufklärungspflichten im Asylverfahren hin und der VGH Mannheim argumentiert in Hinblick auf die Durchsuchung von Zimmern in Flüchtlingsunterkünften spitzfindig. Außerdem in dieser Ausgabe Entscheidungen zur Verlängerung der Ausreisefrist und zur Identitätsklärung durch Zeugenaussagen.

Kein ernsthaftes Risiko in Italien

Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Bautzen sind Familien mit minderjährigen Kindern durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt (Urteil vom 14. März 2022, Az. 4 A 341/20.A) und alleinstehende, arbeitsfähige und nicht vulnerable international Schutzberechtigte durch die humanitären Verhältnisse in Italien ebenso grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh ausgesetzt (Urteil vom 15. März 2022, Az. 4 A 506/19.A). In beiden Verfahren ist das OVG der Auffassung, dass die aktuelle Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte keinen Anlass gebe, von seiner Einschätzung abzuweichen.

EuGH zu Kontrollen an Schengen-Binnengrenzen

Mit Urteil vom 26. April 2022 (Rs. C-368/20, C-369/20) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass der Schengener Grenzkodex einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat auf Grundlage von Artt. 25 und 27 des Grenzkodex entgegensteht, wenn deren Dauer die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreitet und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung eines solchen Zeitraums rechtfertigen würde. Außerdem erlaube der Grenzkodex nicht die sanktionsbewehrte Einführung einer Verpflichtung zur Vorlage eines Ausweisdokuments bei der Einreise über eine Binnengrenze, wenn die Wiedereinführung der Kontrollen gegen Art. 25 des Grenzkodex verstoße. Die Entscheidung des EuGH muss im Prinzip auch Auswirkungen auf die derzeit stattfindende Kontrollen an den deutschen Grenzen haben (etwa an den Grenzen zu Österreich und Tschechien), die wohl ebenso europarechtswidrig sein dürften.

Artt. 2, 3 EMRK verpflichten zu gründlicher Risikobewertung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 26. April 2022 (Az. 29836/20, M.A.M. gg. Schweiz) entschieden, dass nationale Behörden angesichts der internationalen Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen in Pakistan gegenüber konvertierten Christen eine gründliche Prüfung der Situation von Konvertiten zum Christentum und des für den jeweiligen Antragsteller daraus folgenden Risikos vornehmen müssen. Es würde, so der EGMR im entschiedenen Verfahren, gegen Artikel 2 und 3 der Konvention verstoßen, wenn der zum Christentum konvertierte Beschwerdeführer nach Pakistan abgeschoben würde, ohne dass die Behörden ex nunc eine gründliche und strenge Beurteilung der allgemeinen Situation konvertierter Christen in Pakistan und der persönlichen Situation des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr in dieses Land vorgenommen hätten.

Zimmer in Flüchtlingsunterkunft ist Wohnung

Ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft ist eine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG, so der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Urteil vom 28. März 2022 (Az. 1 S 1265/21), weswegen für eine Durchsuchung der Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2 GG gelte. Für die Prüfung, ob der Richtervorbehalt verletzt wurde, komme es aber nicht darauf an, ob die Behörde aus Ex-Ante-Sicht subjektiv eine Durchsuchung durchführen wollte, sondern darauf, ob sie ex post betrachtet objektiv eine Durchsuchung durchgeführt hat. Dies sieht unter anderem das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 18. März 2021 (Az. 3 M 143/20 u.a.) anders, das die Ex-Ante-Sicht für maßgeblich hält. Der VGH hat außerdem entschieden, dass das (bloße) Betreten eines solchen Zimmers keinen Eingriff im Sinne von Art. 13 Abs. 7 GG konstituiere, wenn eine besondere gesetzliche Vorschrift zum Betreten des Zimmers ermächtige und das Betreten verhältnismäßig gewesen sei.

Keine Verlängerung der Ausreisefrist ohne neue Fristsetzung

In der Mitteilung einer Ausländerbehörde, dass sie in Hinblick auf eine Aufenthaltsbeendigung „erstmal nicht mehr tätig werde“, sei keine Verlängerung der Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß § 59 Abs. 1 S. 4 AufenthG zu sehen, so das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 22. April 2022 (Az. 4 MB 14/22). Das OVG stellt anscheinend darauf ab, dass eine Verlängerung der Ausreisefrist nur dann vorliegt, wenn die Behörde ausdrücklich eine neue Frist setzt, was im entschiedenen Verfahren nicht geschehen war. Dies hatte Auswirkungen auf die - vom OVG bejahte - Zulässigkeit einer Ordnungsverfügung gemäß § 46 AufenthG.

Zeugenaussagen zur Identitätsklärung ausreichend

Mit Urteil vom 25. März 2022 (Az. 4 K 476/21.MZ) hat das Verwaltungsgericht Mainz entschieden, dass sich die für die Einbürgerung eines Ausländers erforderliche Klärung seiner Identität und Staatsangehörigkeit im Einzelfall auch aus Erklärungen und Identitätsunterlagen von Familienangehörigen ergeben kann. Sei der Betroffene in unverschuldeter Beweisnot, so das VG, könnten auch sonstige Beweismittel wie Befragung oder Erklärungen von Zeugen zur Klärung seiner Identität herangezogen werden.

Vermischtes vom BVerwG

In einem weiteren Verfahren, in dem es um die Frage der Zulässigkeit einer Abschiebung eines in Italien anerkannten Schutzberechtigten nach Italien ging, hat das Bundesverwaltungsgericht die Nichtzulassungsbeschwerde des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gegen einen Beschluss des OVG Münster mit Beschluss vom 28. März 2022 (Az. 1 B 9.22) zurückgewiesen.