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Ausgabe 48 • 3.6.2022

Außergewöhnliche Umstände

Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof meint wenig überraschend, dass Pushbacks gegen EU-Recht verstoßen, und dass die Covid-Pandemie allein nicht die Unterbrechung von Dublin-Überstellungsfristen rechtfertigen kann. Außerdem geht es um Transitzonen in Ungarn, um die Erledigung von Dublin-Bescheiden, Dublin-Überstellungen nach Rumänien, Anforderungen an die Versagung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis, aufenthaltsrechtliche Verwarnungen, um Pushbacks nach Belarus und um Aufnahmebedingungen in Belgien.

EuGH-Generalanwalt: EU-Asylrecht verbietet Pushbacks

In der Rechtssache C-72/22 PPU hat der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof in seinen Schlussanträgen am 2. Juni 2022 festgehalten, dass das europäische Asylrecht Pushbacks verbietet. Eine nationale Bestimmung, die Drittstaatsangehörigen keinen Zugang zu einem Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gewährt, wenn sie illegal in dieses eingereist sind, sei nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 2 und Art. 7 Abs. 1 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vereinbar, eine nationale Vorschrift, die es erlaubt, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, allein deshalb in Gewahrsam zu nehmen, weil sie die Grenze des betreffenden Mitgliedstaats illegal überschritten hat, sei nicht mit Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU vereinbar. Außerdem erlaube es Art. 72 AEUV einem Mitgliedstaat nicht, nationale Bestimmungen in Abweichung von diesen Richtlinien anzuwenden, wenn „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, die durch einen „Massenzustrom“ von Migranten an seiner Grenze gekennzeichnet sind.

EuGH-Generalanwalt: Covid-Pandemie kein Grund für Unterbrechung von Dublin-Überstellungsfristen

Nach Ansicht des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof in seinen Schlussanträgen vom 2. Juni 2022 in den verbundenen Rechtssachen C-245/21 und C-248/21 stellt das Interesse einer Behörde, einen Übergang der Dublin-Zuständigkeit aufgrund von Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Durchführung von Überstellungen während der Covid‑19‑Pandemie zu verhindern, für sich allein keinen rechtmäßigen Grund dar, der eine Unterbrechung der Überstellungsfrist rechtfertigen kann.

EGMR verurteilt Ungarn wegen Aufnahmebedingungen in Transitzonen

Mit Urteil vom 2. Juni 2022 (Az. 38967/17, H.M. u.a. gg. Ungarn) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ungarn in einem Verfahren verurteilt, in dem es um die Behandlung von Schutzsuchenden in einer Transitzone in Ungarn ging. Sowohl die Ausgestaltung der Lebensbedingungen einer verletzlichen schwangeren Frau und ihrer Kinder über einen Zeitraum von mehr als vier Monaten als auch die Praxis ungarischer Behörden, ihrem Mann bei Krankenhausbesuchen Handschellen und eine Leine anzulegen, stelle eine entwürdigende Behandlung dar, die Art. 3 EMRK verletze. Ungarn habe außerdem gegen Art. 5 EMRK verstoßen, weil die Beschwerdeführer in der Transitzone de facto inhaftiert gewesen seien und ihnen kein Rechtsbehelf zur Überprüfung ihrer Inhaftierung zur Verfügung stand. Der EGMR hat zu dieser Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Erledigung eines Dublin-Bescheids und Kostentragungspflicht

Bei Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und sich anschließender Bescheidaufhebung ist nicht der Ablauf der Überstellungsfrist als solcher, sondern die anschließende Bescheidaufhebung das einen Dublin-Bescheid mit Abschiebungsanordnung erledigende Ereignis, so das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 11. Mai 2022 (Az. 18a K 759/22.A). Nach Ansicht des VG Gelsenkirchen werden die unter Anordnung der Abschiebung erfolgte Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen anderweitig bestehender internationaler Zuständigkeit und die zugehörige Abschiebungsanordnung nach Ablauf der Überstellungsfrist zwar rechtswidrig, verlieren damit aber nicht zugleich ihre Regelungsfunktion und damit ihre rechtliche Wirkung. Werde ein Dublin-Bescheid nach Ablauf der Überstellungsfrist durch die beklagte Behörde aufgehoben, entspreche es darum regelmäßig der Billigkeit, ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Keine Dublin-Überstellungen nach Rumänien

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf weist in seinem Beschluss vom 4. Mai 2022 (Az. 22 L 526/22.A) darauf hin, dass nach Aussage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Rumänien aufgrund der sich dynamisch entwickelnden Situation in der Ukraine am 1. März 2022 mitgeteilt habe, dass Dublin-Überstellungen in das Land ab sofort zunächst nicht mehr entgegen genommen würden und lediglich in dringenden Einzelfällen eine Überstellung weiterhin möglich bleibe. Das VG Düsseldorf hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung für eine Dauer von drei Monaten angeordnet. Siehe zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen allgemein auch die Übersicht des Informationsverbunds Asyl & Migration vom 1. Juni 2022.

Anforderungen an Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG

Die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG wegen des Ausschlusstatbestandes des § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt nur in Betracht, wenn ein konkreter „anderer Staat“ feststeht, in den der Ausländer ausreisen kann, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 27. April 2022 (Az. 2 O 18/22). Außerdem komme die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG wegen wiederholten oder gröblichen Verstoßes gegen „entsprechende Mitwirkungspflichten“ ebenso nur in denjenigen Fällen in Betracht, in denen dem betroffenen Ausländer die Ausreise in den anderen Staat (prinzipiell) möglich und zumutbar sei.

Aufenthaltsrechliche Verwarnung verbraucht Ausweisungsinteresse nicht

Sieht eine Ausländerbehörde, insbesondere aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, von einer Ausweisung eines Ausländers ab und verwarnt ihn stattdessen mit dem Hinweis, dass er mit seiner Ausweisung rechnen müsse, sollte er weiterhin strafrechtlich in Erscheinung treten, verbraucht dies nicht mit Wirkung für § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Ausweisungsinteressen, die Gegenstand des Absehens von der Ausweisung gewesen sind, so der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 11. Mai 2022 (Az. 12 S 3795/21).

Polnisches Gericht hält Pushback nach Belarus für rechtswidrig

Erneut hat ein Gericht in Polen entschieden, dass ein Pushback von Schutzsuchenden an der polnisch-belarussischen Grenze rechtswidrig war. Einem Bericht zufolge hat das Bezirksverwaltungsgericht in Warschau mit Urteilen vom 27. April 2022 Entscheidungen des polnischen Grenzschutzes aufgehoben, mit denen zwei im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet festgehaltene Ausländer im November 2021 aufgefordert wurden, das Hoheitsgebiet der Republik Polen zu verlassen, weil sie die polnisch-weißrussische Grenze an einem nicht dafür vorgesehenen Ort überschritten hatten. Das Gericht hielt fest, dass Polen verpflichtet sei, den Grundsatz der Nichtzurückweisung gegenüber allen Ausländern zu beachten, und dass nach internationalem und EU-Recht die tatsächliche Ausweisung durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs ausgesetzt werden müsse, wobei diesbezügliche Unzulänglichkeiten im polnischen Rechtssystem die Grundrechte von Ausländern verletzen könnten.

Belgische Aufnahmebehörde seit Jahresbeginn in 740 Fällen verurteilt

Einem Medienbericht zufolge wurde die für die Aufnahme und Unterbringung von Schutzsuchenden in Belgien zuständige Behörde Fedasil seit Anfang des Jahres in 740 Fällen gerichtlich verurteilt, weil sie Schutzsuchende nicht oder nur mit Verzögerung untergebracht habe. Hintergrund ist eine von der Behörde geführte Warteliste für den Zugang zu Unterbringung, auf der wohl vor allem alleinstehende männliche Schutzsuchende landen und die die Behörde trotz ihrer von belgischen Gerichten festgestellten Rechtswidrigkeit beibehalten will.

Vermischtes vom BVerwG

Mit Beschluss vom 4. Mai 2022 (Az. 1 B 43.22) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde in einem Verfahren zurückgewiesen, in dem es um die Relevanz von Wehrdienstentziehung in Syrien für die Anerkennung als Flüchtling in Deutschland ging. Das Oberverwaltungsgericht Greifswald habe in dem Verfahren zwar die Gefahr einer Verfolgungshandlung anders bewertet als das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, es handele sich dabei aber lediglich um eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung, nicht um eine Rechtsfrage.

Neue EGMR-Rechtsprechungsübersicht zur Inhaftierung von begleiteten Minderjährigen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine thematische Rechtsprechungsübersicht zu begleiteten minderjährigen Migranten in Haft (10 Seiten) aktualisiert, die jetzt den Stand Juni 2022 hat.