Ausgabe 52 • 1.7.2022

Hinreichende Aussicht

Dass die Erosion der Rechte von Schutzsuchenden in osteuropäischen EU-Staaten rechtswidrig ist, mussten der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sowie der Europäische Gerichtshof in dieser Woche erneut feststellen. Außerdem geht es in dieser Ausgabe um Familienflüchtlingsschutz, Widerrufsprüfungen, Prozesskostenhilfe, Wohnsitzauflagen, eine rechtswidrige Abschiebung, ein versagtes Einvernehmen, asylgerichtliche Statistik und griechische Asylrechtsprechung.

Polen verletzt Menschenrechte von Schutzsuchenden

In zwei Urteilen vom 30. Juni 2022 (Az. 39028/17, A.I. u.a. gg. Polen, und Az. 42907/17, A.B. u.a. gg. Polen) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass Polen im Oktober und November 2016 sowie zwischen Februar und April 2017 die Menschenrechte von tschetschenischen Schutzsuchenden verletzt hat, die an der polnisch-belarussischen Grenze um Asyl nachgesucht hatten. Polnische Behörden hätten das Vorbringen der Betroffenen systematisch ignoriert, vom EGMR erlassene vorläufige Maßnahmen ignoriert, in schriftlichen Protokollen bewusst falsch wiedergegeben und die Betroffenen nach Belarus zurückgeschoben. Dies verletze ihre Rechte aus Art. 3 EMRK, aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK, aus Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK und Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK sowie in einem Fall aus Art. 34 EMRK.

Zugang zum Asylverfahren auch bei „Massenzustrom“

Mit Urteil vom 30. Juni 2022 (Az. C-72/22 PPU) hat der Europäische Gerichtshof in einem Eilverfahren entschieden, dass die Rechte von Asylsuchenden, die ihnen auf Grundlage von EU-Recht zustehen, in den Mitgliedstaaten auch in Ausnahmesituationen nicht eingeschränkt werden dürfen. Litauen hatte sich auf eine Notsituation aufgrund eines „Massenzustroms“ von Ausländern berufen, scheiterte damit aber vor dem EuGH. Insbesondere, so der EuGH, erlauben Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU es den Mitgliedstaaten nicht, den Zugang zu einem Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in einer solchen Situation einzuschränken, und erlaubt Art. 8 der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU nicht, Schutzsuchende allein deshalb in Gewahrsam zu nehmen, weil sie sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten. Erst vor wenigen Tagen hatte Amnesty International Litauen in einem Bericht Pushbacks, rechtswidrige Inhaftierungen und schwere Misshandlungen von Schutzsuchenden vorgeworfen.

Gemeinsame Staatsangehörigkeit keine Voraussetzung für Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes

Eine gemeinsame Staatsangehörigkeit im Sinne einer „Verfolgungsgemeinschaft“ ist keine Voraussetzung für die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes, so das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil vom 2. Juni 2022 (Az. M 28 K 20.30958), weil die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 - 4 AsylG ein solches Erfordernis nicht vorsehen. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass ein derartiges Verständnis des § 26 AsylG europarechtswidrig wäre, seien nicht ersichtlich.

Ermessensfehlgebrauch bei Widerrufsprüfung

Bei einer Widerrufsprüfung grenzt § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG die ermessensleitenden Gesichtspunkte nicht ein, so dass bei der Abwägung der öffentlichen Interessen mit den privaten Belangen des Flüchtlings die Folgen einer Rückkehr in den früheren Verfolgerstaat mit einzubeziehen sind, so das Verwaltungsgericht Aachen in seinem Urteil vom 22. Juni 2022 (Az. 4 K 2605/20.A). Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass zielstaatsbezogene Gründe im Rahmen der Prüfung eines nachrangigen Schutzstatus berücksichtigt werden, weil dies verkenne, dass auch unterhalb der Schwelle des § 4 AsylG oder des § 60 Abs. 5 AufenthG berücksichtigungsfähige Interessen der Betroffenen bestehen können. Lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder die Feststellung eines Abschiebungsverbots nicht vor, könne die Rückkehr gleichwohl eine erhebliche Härte bedeuten, die dann jedoch nur im Rahmen der Ermessensentscheidung überhaupt Berücksichtigung finden könne.

Maßgeblicher Zeitpunkt für hinreichende Aussicht der Rechtsverfolgung

Ob eine gerichtliche Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und damit Prozesskostenhilfe bewilligt werden muss, beurteilt sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs, so der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 30. Mai 2022 (Az. 12 S 488/22). Treten nach der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind, seien diese zu beachten, es sei denn, sie treten erst nach Abschluss einer Instanz ein.

Wohnsitzauflage für Flächenlandkreis keine zulässige Auflage nach § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG

Das Verwaltungsgericht Kassel hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 (Az. 4 L 875/22.KS) entschieden, dass ein Landkreis bei Festlegung einer Wohnsitzauflage als „bestimmten Ort“ im Sinne des § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG nicht seinen gesamten Landkreis festlegen kann. Nach allgemeinem Sprachverständnis werde der Begriff „Ort“ in den Bedeutungen „Standpunkt, Platz, Stelle und Siedlung, Dorf, Stadt“ verwendet, ein Landkreis hingegen besteht gerade aus dem Gebiet mehrerer Gemeinden, für die jeweils der Begriff „Ort“ Verwendung finde.

Abschiebung von schwer erkrankter und hilfloser Mutter mit ihren Kindern rechtswidrig

Der fluchtpunkt Hamburg weist auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Hamburg vom 3. Mai 2022 (Az. 6 Bf 113/21) hin, in dem das OVG eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 9. März 2021 bestätigt, das eine im Jahr 2014 erfolgte Abschiebung nach Serbien für rechtswidrig erklärt hatte, bei der eine Familie getrennt wurde. Die Abschiebung, so das OVG, sei rechtswidrig gewesen, weil die Ausländerbehörde ein bestehendes Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG ignoriert habe und die Abschiebung jedenfalls einer der Klägerinnen auch aus gesundheitlichen Gründen rechtlich unmöglich gewesen sei. Die durchaus spannende Frage, ob nicht bereits aus der ebenfalls festgestellten Rechtswidrigkeit der Wohnungsdurchsuchung die Rechtswidrigkeit der Abschiebung insgesamt folge, die das VG noch bejaht hatte, sah das OVG leider als nicht entscheidungserheblich an.

Vermischtes vom BVerwG

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext seines Urteils vom 15. März 2022 (Az. 1 A 1.21) veröffentlicht, in dem Verfahren ging es um die Versagung des Einvernehmens des BMI zur Berliner Aufnahmeanordnung für zusätzliche „Moria-Flüchtlinge“. Das BVerwG hatte im März entschieden, dass das gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG erforderliche Einvernehmen des Bundes bei der Einrichtung des Berliner Landesaufnahmeprogramms rechtmäßig verweigert wurde. Die Entscheidung über das Einvernehmen diene der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit und sei an diesem Zweck auszurichten. Habe der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, dürfe er einem Landesaufnahmeprogramm zudem bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe bezogenen Maßnahmen das Einvernehmen verweigern.

Bundesregierung zur asylgerichtlichen Statistik

Mit Antwort vom 17. Juni 2022 (BT-Drs. 20/2309) hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage im Bundestag beantwortet, in der es um Asylstatistik und asylgerichtliche Verfahren geht. Neben zahlreichen Zahlenangaben zu asylgerichtlichen Entscheidungen enthält die Antwort auch Ausführungen über die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 7. November 2013 (Rs. C-199/12 bis C-201/12) und des Urteils des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 18. November 2021 (Az. 3 K 1759/20.A) zu Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität und des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Januar 2021 (Rs. C-441/19) zu Rückkehrentscheidungen gegen unbegleitete Minderjährige. Mit Stand 31. März 2022 waren in Deutschland insgesamt 138.497 asylgerichtliche Verfahren anhängig, das sind etwa 11% weniger als am 30. September 2021.

Übersicht zu aktueller griechischer Asylrechtsprechung

Die griechische NGO Refugee Support Aegean (RSA) hat aktuelle griechische Asylrechtsprechung aus dem ersten Halbjahr 2022 in einem 62-seitigen Asylum Case Law Report (in griechischer Sprache) zusammengefasst und analysiert.

ISSN 2943-2871