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Ausgabe 55 • 22.7.2022

Wesensveränderung

Die sommerliche Hitze fordert ihren Tribut und die flüchtlingsrechtlichen Gerichtsentscheidungen tröpfeln nur noch langsam in den HRRF-Newsletter. In dieser Woche geht es immerhin noch um menschenrechtliche Mindeststandards für die Behandlung unbegleiteter minderjähriger Schutzsuchender und einmal wieder um die fragwürdige Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, eine gemeinsame Staatsangehörigkeit von Ehegatten contra legem zur Voraussetzung für die Zuerkennung von Familienschutz zu machen. Außerdem beschäftigt sich das Verwaltungsgericht Kassel mit der Frage, was das „Wesen“ eines aufenthaltsrechtlichen Bescheids ausmacht und wann möglicherweise eine Wesensveränderung (des Bescheids) vorliegt.

EGMR verurteilt Italien wegen der Behandlung unbegleiteter minderjähriger Schutzsuchender

Mit Urteil vom 21. Juli 2022 (Darboe u. Camara gg. Italien, Az. 5797/17) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien wegen seines Umgang mit einem unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden im Jahr 2016 verurteilt. Italien habe Art. 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt, indem es den Minderjährigen über einen Zeitraum von mehreren Monaten als erwachsenen Schutzsuchenden behandelt und unterbracht habe, außerdem habe es eine Beschwerde des Minderjährigen gegen diese Behandlung nicht wirksam untersucht. Der EGMR hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Gemeinsame Staatsangehörigkeit immer noch keine Voraussetzung für Zuerkennung von Familienschutz

Nach dem Verwaltungsgericht München (Urteil vom 2. Juni 2022, Az. M 28 K 20.30958) und dem Verwaltungsgericht Berlin (Urteil vom 21. Juni 2022, Az. 38 K 294.19 A) ist nun auch das Verwaltungsgericht Trier (Urteil vom 29. April 2022, Az. 1 K 5117/19.TR) der Ansicht, dass sich ein zusätzliches Erfordernis gleicher Staatsangehörigkeit von Stammberechtigtem und ableitungsberechtigtem Ehegatten für die Zuerkennung von Familienschutz weder aus dem Wortlaut, der Systematik noch dem Sinn und Zweck des § 26 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 1 AsylG ergibt und auch unionsrechtlich nicht geboten ist.

Keine Umdeutung einer asylrechtlichen in eine aufenthaltsrechtliche Rechtsgrundlage

In seinem Urteil vom 13. Juli 2022 (Az. 4 K 325/22.KS) äußert sich das Verwaltungsgericht Kassel zum Verhältnis asylrechtlicher und aufenthaltsrechtlicher Mitwirkungspflichten. Dabei seien die asylrechtlichen Mitwirkungspflichten im Rahmen einer Aufenthaltsbeendigung nur anwendbar, so das VG, wenn die Behörde gerade die Vollstreckung einer asylrechtlichen Abschiebungsanordnung beabsichtige. Erlasse die Behörde zunächst eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung, später dann eine aufenthaltsrechtliche Abschiebungsandrohung, dürfe sie nicht zwischen beiden Abschiebungsandrohungen wählen, sondern müsse davon ausgegangen werden, dass die spätere Abschiebungsandrohung die frühere ersetzt habe. Eine dann dennoch auf § 15 AsylG gestützte Verpflichtung des Ausländers zur Mitwirkung an der Passbeschaffung dürfe vom Gericht nicht in eine Verpflichtung auf Grundlage von § 48 AufenthG umgedeutet werden, sondern sei rechtswidrig. Dies gelte auch dann, wenn die zugrundeliegende Handlungspflicht gleichwohl auch nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bestehe, weil zwischen aufenthaltsrechtlicher und asylrechtlicher Rechtsgrundlage so wesentliche Unterschiede im folgenden Verfahren bestünden, dass der Austausch der Rechtsgrundlage eine Wesensveränderung des angefochtenen Bescheides bewirken würde. Das sehen andere Gerichte (etwa das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 27. Oktober 2021, Az. M 12 S 21.5589) allerdings genau andersherum. Das VG Kassel hat sich auch zur Frage der Verwirkung einer (asylrechtlichen) Abschiebungsandrohung geäußert, die es im entschiedenen Verfahren bei mehrjähriger Untätigkeit der zuständigen Behörde angenommen hat.

Vermischtes vom BVerwG

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext seines Beschlusses vom 8. Juni 2022 (Az. 1 C 24.21) veröffentlicht, mit dem es den Europäischen Gerichtshof in einem Verfahren angerufen hat, in dem in Frage steht, welche Folgen ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK für den Erlass einer Abschiebungsandrohung hat. Das BVerwG sieht unionsrechtlichen Klärungsbedarf zu der Frage, ob die Rechtslage in Deutschland, gemäß der das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht, mit Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vereinbar ist, wonach die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen berücksichtigen. Das BVerwG hatte über seinen Beschluss bereits in einer Pressemitteilung vom 8. Juni 2022 berichtet.