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Ausgabe 57 • 5.8.2022

Berichtigende Worte

Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze (juristische) Bibliotheken werden zu Makulatur, hieß es bereits im Jahr 1847. Dass das auch mit einigen berichtigenden Worten der Rechtsprechung geht, zeigt in dieser Woche der Europäische Gerichtshof, in der er nicht weniger als sechs Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht veröffentlicht hat, die jedenfalls in Deutschland einiges Umdenken erforderlich machen werden. Ach, und das Bundesverfassungsgericht hat auch etwas entschieden.

Deutsche Praxis zum Elternnachzug zu Flüchtlingen ist europarechtswidrig

§ 36 AufenthG erlaubt den Familiennachzug von Eltern zu ihrem minderjährigen Kind, das mit einem humanitären Aufenthaltstitel in Deutschland lebt. Aber wann genau muss das Kind denn (noch) minderjährig sein, wenn es zu seinen Eltern nach Deutschland ziehen will? Der Europäische Gerichtshof hatte in Auslegung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG eigentlich schon in seinem Urteil vom 12. April 2018 (Rs. C-550/16) entschieden, dass es auf den Zeitpunkt ankommt, in dem das Kind seinen Asylantrag gestellt hat. Das deutsche Bundesverwaltungsgericht war sich aber nicht sicher, ob der EuGH das wirklich so gemeint hatte, und fragte in einem neuen Vorabentscheidungsverfahren lieber noch einmal nach. Es stellte sich heraus, dass der EuGH das tatsächlich so gemeint hatte.

In seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-273/20 u. C-355/20) stellt der EuGH relativ ausdrücklich klar, dass der Familiennachzug zu einem volljährig gewordenen Kind, das als Flüchtling anerkannt wurde, nicht abgelehnt werden kann, wenn das Kind erst nach Stellung seines Asylantrags, etwa zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörden über den von den Eltern gestellten Antrag auf Familienzusammenführung, volljährig geworden ist, und dass die Volljährigkeit auch kein Grund ist, um das Aufenthaltsrecht der Eltern wieder entfallen zu lassen. Außerdem führte der EuGH aus, dass für einen Anspruch auf Familienzusammenführung zwar nicht das bloße Verwandtschaftsverhältnis ausreiche, aber auch ein Zusammenleben von Eltern und volljährigem Kind nicht erforderlich sei. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jedweder Art seien ausreichend.

Siehe zu diesem (und dem nächsten) Urteil auch die Pressemitteilung des EuGH sowie die ausführlichen Beiträge auf der Website des Informationsverbunds Asyl & Migration sowie von Constantin Hruschka in der LTO.

Deutsche Praxis zum Kindernachzug zu Flüchtlingen ist europarechtswidrig

Nach § 32 AufenthG hat ein minderjähriges lediges Kind einen Anspruch auf Familiennachzug zu seinen in Deutschland lebenden Eltern, wenn diese u.a. ein humanitäres Aufenthaltsrecht haben. Auch hier stellt sich wieder die Frage, zu welchem Zeitpunkt genau das Kind minderjährig sein muss, wenn ein Familiennachzug angestrebt wird. Der Europäische Gerichtshof hatte sich grundsätzlich zwar bereits zu dieser Frage geäußert (Urteil vom 16. Juli 2020, Rs. C-133/19, C-136/19 und C-137/19), dabei aber nicht entschieden, welche Auswirkungen gerade die Flüchtlingseigenschaft der Eltern auf die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts zur Bestimmung der Minderjährigkeit des nachziehenden Kindes haben sollte.

Das hat er nun in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-279/20) nachgeholt, das sich ebenfalls mit der Auslegung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG befasst. Danach kommt es beim Kindernachzug zu ihren als Flüchtlingen anerkannten Eltern, ebenso wie im umgekehrten Fall des Elternnachzugs zu ihrem als Flüchtling anerkannten Kind, auf den (frühen) Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags der später als Flüchtlinge anerkannten Eltern an, jedenfalls sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung der Eltern als Flüchtlinge gestellt wird.

Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund des früheren EuGH-Urteils aus dem Jahr 2020 ein klein wenig überraschend, hatte der EuGH doch damals noch auf den (späteren) Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung abgestellt. Allerdings kam es damals, anders als jetzt im Urteil vom 1. August 2022, nicht auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags an. Begründet hat der EuGH seine Ansicht mit der Erwägung, dass die Flüchtlingsanerkennung schließlich deklaratorisch sei, ein Flüchtling somit bereits ab dem Zeitpunkt seines entsprechenden Antrags ein Recht auf Zuerkennung dieser Eigenschaft habe, und der Schutz minderjähriger Kinder nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Asylanträge, oder über Anträge auf Familienzusammenführung, ausgehöhlt werden dürfe.

Der EuGH hat in diesem Urteil außerdem erneut ausgeführt, dass für einen Anspruch auf Familienzusammenführung zwar nicht das bloße Verwandtschaftsverhältnis ausreiche, aber auch ein Zusammenleben von Eltern und (volljährigem) Kind nicht erforderlich sei. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jedweder Art seien ausreichend.

Deutsche Dublin-Zuständigkeit für in Deutschland nachgeborenes Kind

Art. 20 Abs. 3 der Dublin-III-VO sieht vor, dass ein Kind von Schutzsuchenden das Dublin-Schicksal seiner Eltern oder sonstigen Familienangehörigen teilt und derselbe Mitgliedstaat, der für die Prüfung der Asylanträge der Familienangehörigen zuständig ist, auch für das Kind zuständig wird. Dies gilt auch, wenn das Kind erst nach Ankunft in dem Mitgliedstaat geboren wird, aber nach dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nur so lange, wie die Familienangehörigen „Antragsteller“ sind, also nicht mehr, wenn ihre Asylverfahren beendet sind.

Dem deutschen Bundesverwaltungsgericht war entsprechend schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass für in Deutschland geborene Kinder von Eltern, die bereits in einem anderen EU-Staat internationalen Schutz genießen, Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nicht passt (siehe Urteile vom 23. Juni 2020, Az. 1 C 37.19, dazu auch eine Pressemitteilung vom 11. August 2020, und vom 25. Mai 2021, Az. 1 C 2.20 und 1 C 39.20). Es ließ in den von ihm entschiedenen Verfahren offen, ob Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO in solchen Fallkonstellationen ausdehnend oder analog angewendet werden kann, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jeweils kein (rechtzeitiges) Aufnahmegesuch an den Mitgliedstaat gestellt hatte, in dem die Eltern ihre Schutzberechtigung erhalten hatten, und es die Asylanträge der Kinder jedenfalls aus diesem Grund nicht wegen der Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staats als unzulässig hätte ablehnen dürfen.

Dass der Europäische Gerichtshof die Frage der Dublin-Zuständigkeit für in Deutschland nachgeborene Kinder von bereits in einem anderen EU-Staat international Schutzberechtigten in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-720/20) dennoch beantworten konnte, ist dem Verwaltungsgericht Cottbus zu verdanken, das dem EuGH Ende 2020 ein bei ihm anhängiges Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte. In seinem Urteil hat der EuGH einer möglichen analogen Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO nun einen klaren Riegel vorgeschoben: In Art. 9 Dublin-III-VO sei ausdrücklich geregelt, wie in der vorliegenden Fallkonstellation zu verfahren sei. Danach könne der Mitgliedstaat, der bereits Familienangehörige des Kindes anerkannt habe, auch für das Kind zuständig sein, jedoch nur, wenn die Betroffenen dies wünschen. Liege so ein Wunsch nicht vor, fänden die allgemeinen Zuständigkeitskriterien Anwendung und damit letztlich auch die Auffangzuständigkeit aus Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO, wonach derjenige Mitgliedstaat zuständig sei, in dem der Asylantrag gestellt wurde - hier also Deutschland. Auch ein humanitäres Aufnahmeersuchen gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO helfe dem Mitgliedstaat nicht, wenn die Betroffenen damit (wie hier) nicht einverstanden seien. Die Ablehnung eines Asylantrags eines in Deutschland geborenen Kindes als unzulässig sei außerdem nicht mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU zu vereinbaren, weil dafür erforderlich wäre, dass das Kind selbst bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten habe, was jedoch nicht der Fall sei.

Der EuGH hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Rechtsbehelf auch bei Ablehnung von Dublin-Familienzusammenführung

Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass ein unbegleiteter Minderjähriger das Recht auf Familienzusammenführung mit einem Verwandten hat, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält. Nicht ausdrücklich geregelt ist allerdings, was geschieht, wenn dieser andere Mitgliedstaat die Familienzusammenführung ablehnt, weil Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung lediglich das Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine „Überstellungsentscheidung“ definiert, die dann streng genommen nicht vorliegt. Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-19/21) dahingehend geklärt, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung auch auf diese Fallkonstellationen anwendbar ist.

Keine willkürlichen Hafenstaatskontrollen von Seenotrettungsschiffen

In seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-14/21 u. C-15/21, Sea Watch e.V.) hat sich der Europäische Gerichtshof zu der Frage geäußert, wie private Seenotrettungsschiffe von Behörden von EU-Mitgliedstaaten kontrolliert werden dürfen, wenn sie sich in Häfen aufhalten. Hintergrund des Verfahrens war das Festhalten der beiden Schiffe Sea Watch 3 und Sea Watch 4 in italienischen Häfen, weil die Schiffe nach Ansicht italienischer Behörden technische Mängel aufgewiesen hätten. Europarecht ist hier einschlägig, weil die Richtlinie 2009/16/EG über die Hafenstaatskontrolle einen rechtlichen Rahmen dafür geschaffen hat, welche Kontrollen Hafenstaaten durchführen dürfen.

Der EuGH hält Hafenstaatskontrollen von privaten Seenotrettungsschiffen für grundsätzlich mit der Richtlinie vereinbar, allerdings nicht immer, sondern nur dann, wenn der kontrollierende EU-Staat belastbare Anhaltspunkte dafür gefunden hat, und zwar auf Grundlage „detaillierter rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte“, dass auf dem Schiff eine Gefahr für die Gesundheit, Sicherheit, die Arbeitsbedingungen an Bord oder die Umwelt vorliegt. Insbesondere dürften die Behörden des Hafenstaats ihren Kontrollen keine Anforderungen zugrunde legen, die nach dem Recht des Flaggenstaats nicht erforderlich seien. Der EuGH weist außerdem ausdrücklich auf die völkerrechtliche Pflicht hin, Leben auf See zu retten, woraus unter anderem folge, dass bei der Überprüfung der Sicherheit eines Schiffs die potenzielle Anwesenheit auch vieler Schiffbrüchiger an Bord keine Kontrollen rechtfertigen könne, selbst wenn sie die zulässige Anzahl der Passagiere weit übersteigen sollte.

Der EuGH hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Auch bei grob gewalttätigem Verhalten kein vollständiger Leistungsentzug

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-422/21, TO) in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (siehe das Urteil vom 12. November 2019, Rs. C-233/18, Haqbin) entschieden, dass soziale Leistungen für Schutzsuchende gemäß Art. 20 Abs. 4 und 5 der Aufnahmebedingungen-Richtlinie 2013/33/EU zwar eingeschränkt werden dürfen, unter anderem auch, wenn sich ein Schutzsuchender gegenüber öffentlich Bediensteten grob gewalttätig verhalten hat, dass die Leistungen aber nie so reduziert oder eingestellt werden dürfen, dass der Betroffene seine elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnte. Dies betreffe etwa die Bedürfnisse, eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen.

Ausschluss von Inhabern humanitärer Aufenthaltstitel vom Kindergeld verfassungswidrig

Mit Beschluss vom 28. Juni 2022 (Az. 2 BvL 9/14 u.a.) hat das Bundesverfassungsgericht die mittlerweile außer Kraft getretene Kindergeldregelung in § 62 Abs. 2 EStG für verfassungswidrig erklärt, weil sie Inhabern humanitärer Aufenthaltstitel nur dann einen Anspruch auf Kindergeld zubilligte, wenn sie bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten. Das Ziel der Regelung, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten würden, sei zwar grundsätzlich legitim, das Kriterium der Integration in den Arbeitsmarkt sei aber ungeeignet für eine solche Prognose. Gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln hänge die Aufenthaltsdauer stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab.

Das BVerfG hat zu dieser Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

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