Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Der nun für verfassungswidrig erklärte § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sieht vor, dass alleinstehende Erwachsene, die in Sammelunterkünften wohnen, einen um 10 % geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen erhalten.
Es könne insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass Alleinstehende in den Sammelunterkünften, weil sie typischerweise gemeinsam mit anderen dort Wohnenden wirtschaften und dadurch für den Regelbedarf relevante Einsparungen erzielen würden, tatsächlich im Regelfall einen geringeren Bedarf hätten als Alleinstehende in einer eigenen Wohnung. Tragfähige Erkenntnisse dazu lägen nicht vor und der Gesetzgeber habe keine Erhebungen angestellt oder entsprechende Erkenntnisse in das Verfahren eingebracht. Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde, sei nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr werde nur eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt werde. Auch die pauschale Annahme, dass in Sammelunterkünften so wie in Paarhaushalten gemeinsam „aus einem Topf“ gewirtschaftet werde, trage ohne tatsächliche Grundlagen nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat zu seiner Entscheidung auch eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht.
In seinem Urteil vom 22. November 2022 (Rs. C-69/21) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG eine Abschiebung (und bereits den Erlass einer Abschiebungsanordnung) verbietet, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre. Ein Mitgliedstaat dürfe dabei keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein müsse, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen könne. Der Maßstab für den Grad der Gefahr von Schmerzen ergebe sich aus Art. 4 GRCh, der inhaltlich Art. 3 EMRK entspreche.
Der Europäische Gerichtshof hat zu seiner Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Flüchtlingen, denen in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden war, bevor sie nach Deutschland weitergereist sind, steht in der gegenwärtigen Situation ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, meint das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in seinem Urteil vom 15. November 2022 (Az. 2 A 81/22). Die Betroffenen könnten nach einer Rückkehr nach Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit elementarste Bedürfnisse nicht befriedigen und würden voraussichtlich für längere Zeit nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu erwirtschaften. Für sie bestehe mangels staatlicher und sonstiger Hilfen nach der aktuellen Auskunftslage das ernsthafte Risiko, obdachlos zu werden und in eine Situation extremer materieller Not zu geraten. Das gelte im Grundsatz unabhängig von den Umständen und den persönlichen Verhältnissen des Einzelfalls. Insbesondere für die Annahme, von der für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland bestehenden Gefahr, in eine existenzielle Notlage zu geraten und obdachlos zu werden, seien generell alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige männliche Personen ausgenommen, gebe es derzeit keine hinreichende tatsächliche Grundlage.
In einem Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 18. November 2022 (Az. 19 K 3710/22) entschieden, dass Begünstigte des Chancen-Aufenthaltsrechts sich auf eine bestehende Verwaltungspraxis berufen können, nach der die Abschiebung dieser Personengruppe regelmäßig ausgesetzt wird. Bei der in Baden-Württemberg vom zuständigen Ministerium mündlich erteilten Anweisung zur Zurückstellung von Abschiebungen dieser Personengruppe handele es sich nicht um einen Abschiebungsstop-Erlass gemäß § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG, sondern um eine ermessenslenkende Vorgabe im Sinne von § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG, die das Ermessen der zuständigen Behörde wegen Art. 3 Abs. 1 GG auf Null reduziere. Zwar stehe die Abschiebung nicht im Ermessen der Behörde und sei fraglich, ob die Anwendung von § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG auf eine große, nach abstrakten Merkmalen bestimmte Ausländergruppe nicht durch § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG gesperrt sei, diese Frage könne aber nur im Hauptsacheverfahren beantwortet werden.
Das Verwaltungsgericht Göttingen hält in seinem Urteil vom 2. November 2022 (Az. 3 A 115/20) § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für entsprechend anwendbar, wenn in einem EU-Mitgliedstaat wie Italien zwar nicht Flüchtlingsschutz, aber subsidiärer Schutz gewährt wurde und fortbesteht. Eine dennoch ergangene Abschiebungsandrohung in das Herkunftsland sei dann rechtswidrig. Das VG verweist zur Begründung im Wesentlichen auf das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Juli 2021 (Az. M 11 K 18.31931).
Mit Urteil vom 20. Oktober 2022 (Rs. C-66/21) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Opfer von Menschenhandel während einer Bedenkzeit, die ihnen gemäß Art. 6 der Richtlinie 2004/81/EG eingeräumt wird, um zu entscheiden, ob sie mit den Behörden zusammenarbeiten wollen, vor Dublin-Überstellungen geschützt sind. Solche Dublin-Überstellungen dürften während der Bedenkzeit zwar angeordnet, aber nicht vollstreckt werden.
In seinem Beschluss vom 2. August 2022 (Az. XIII ZB 13/21) hat der Bundesgerichtshof die Anforderungen in Erinnerung gerufen, die in Haftanträgen an die Erwähnung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren und das jeweilige Einverständnis der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Betroffenen zu stellen sind. Danach muss ein Haftantrag für alle aus der Ausländerakte ersichtlichen Ermittlungsverfahren Angaben dazu enthalten, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft erforderlich oder entbehrlich ist, ob es vorliegt oder bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein wird. Daran fehlte es im entschiedenen Verfahren.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom 12. Oktober 2022 (Az. 1 B 53.22) eine Nichtzulassungsbeschwerde in einem Verfahren zurückgewiesen, in dem es um die Zulässigkeit einer Dublin-Überstellung nach Italien ging, und in dem das BVerwG die als klärungsbedürftig aufgeworfenen Fragen als nicht entscheidungserheblich ansah.