Offen homosexuell lebenden Männern drohen sowohl durch Privatpersonen aus der Bevölkerung als auch durch staatliche Stellen erhebliche Verfolgungshandlungen im Westjordanland, so das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 6. Dezember 2022 (Az. 14 A 2143/20), in dem es zur Begründung unter anderem umfangreich auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 18. Mai 2021 (Az. 4 K 2610/17.A) verweist.
Das Verwaltungsgericht Saarlouis geht in seinem Urteil vom 27. Januar 2023 (Az. 3 K 1165/22) davon aus, dass lesbische Frauen in Marokko als Mitglied einer sozialen Gruppe von flüchtlingsrelevanter Verfolgung bedroht sind. Hinsichtlich einer Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität in Bezug auf Marokko hätten sich im Vergleich zum Beschluss des Gerichts vom 2. Juni 2016 (Az. 3 K 1984/15) weder rechtlich noch in tatsächlicher Hinsicht Änderungen ergeben.
Wenn das beklagte und in erster Instanz unterlegene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Rechtsauffassung des Gerichts für falsch hält, führt dies ebenso wenig zur Zulassung der Berufung wie eine lediglich pauschale Behauptung der grundsätzlichen Klärungsbedürftigkeit bestimmter Fragen, so das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 10. Januar 2023 (Az. 4 LA 10/23). Inhaltlich ging es um die Dublin-Zuständigkeit für den Asylantrag eines in Deutschland nachgeborenen Kindes, dessen Mutter in Dänemark Flüchtlingsschutz erhalten hatte. Das OVG ging davon aus, dass Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO weder direkt noch analog anwendbar sei, wenn die Familie eines minderjährigen Klägers oder einer minderjährigen Klägerin in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz erhalten habe, und dass es bei der Auffangzuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO bleibe, wenn die betreffenden Personen keinen anderen Wunsch schriftlich kundgetan hätten.
Bei der Beurteilung der Frage, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren erfolglos abgeschlossen ist, ist auf den Zeitpunkt des Asylantrags in Deutschland abzustellen und nicht auf (irgend)einen späteren Zeitpunkt, sagt das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 30. Januar 2023 (Az. 1 LA 85/22). Das beklagte und in erster Instanz unterlegene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte die Frage aufgeworfen, ob für die Beurteilung, ob ein Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt, auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland oder auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs nach Art. 29 der Dublin III-Verordnung abzustellen sei. Das OVG sah diese Frage als nicht grundsätzlich bedeutsam an, weil sie bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden könne.
In Schweden wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder Nichtbetreiben des Verfahrens eingestellte Asylverfahren sind keine abgeschlossenen Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG, da sie in Schweden ohne zeitliche Beschränkung weiterbetrieben werden können, sagt das Verwaltungsgericht Minden in seinem Urteil vom 22. Februar 2023 (Az. 1 K 4557/21.A). Habe ein Mitgliedstaat Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU über Einschränkungen der Wiedereröffnung eines Asylverfahrens nicht umgesetzt, so würden die darin vorgesehenen Einschränkungen weder unmittelbare Anwendung in diesem Mitgliedstaat finden, noch seien sie bei der Vorfrage des § 71a Abs. 1 AsylG zu berücksichtigen, ob ein Asylverfahren in diesem Mitgliedstaat abgeschlossen sei.
Ein Auseinanderreißen einer bereits im Heimatland und während des gesamten Fluchtwegs bestehenden Familiengemeinschaft durch eine Überstellung der Kläger nach Slowenien zur Durchführung des Asylverfahrens, während die Ehefrau und Mutter der Kläger in Deutschland über ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG verfügt, ist nicht zu rechtfertigen, sagt das Verwaltungsgericht Wiesbaden in seinem Urteil vom 26. Januar 2023 (Az. 1 K 259/21.WI.A). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO verpflichtet, sein Selbsteintrittsrecht auszuüben, da eine Trennung der Familienmitglieder eine Verletzung von Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG darstellen würde. Für die Wirksamkeit und Beachtlichkeit der geltend gemachten Eheschließung komme es außerdem nicht darauf an, ob die Ehe nach deutschem Recht als wirksam zu betrachten sei, sondern nur darauf, ob sie nach dem Recht des Heimatlandes wirksam sei.
Der griechische Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht des Landes, hat mit Beschluss vom 3. Februar 2023 (Az. 177/2023) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet, in dem es um die Auslegung von Art. 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU geht, der das Konzept des sicheren Drittstaats regelt. Der Staatsrat fragt den EuGH, ob die Anwendung des Konzept eines sicheren Drittstaats voraussetzt, dass auch tatsächlich Rückführungen in den sicheren Drittstaat möglich sind, und, falls ja, auf welcher Entscheidungsebene es darauf ankommt: Beim Erlass nationaler Rechtsakte, die sichere Drittstaaten definieren, bei der Entscheidung über einzelne Asylanträge oder lediglich bei der Durchführung von Rückführungen in solche sicheren Drittstaaten. Hintergrund der Vorlage ist, dass griechisches Recht die Türkei als sicheren Drittstaat ansieht, wodurch Asylanträge von Schutzsuchenden, die über die Türkei nach Griechenland gelangt sind, als unzulässig abgewiesen werden, dass aber faktisch seit fast zwei Jahren keine Rückführungen solcher Schutzsuchender in die Türkei stattfinden. Eine englische Übersetzung des Beschlusses ist auf der Website von Refugee Support Aegean verfügbar.
Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat in seinem Beschluss vom 30. Dezember 2022 (Az. 2 LA 40/20) ausgeführt, dass dann, wenn im Protokoll einer verwaltungsgerichtlichen Verhandlung als Begründung für die Ablehnung eines Beweisantrages lediglich „(unzulässig/unerheblich)“ angegeben wird und das Gericht im Urteil nicht auf den Beweisantrag Bezug nimmt, nicht nachprüfbar ist, ob die Begründung der Ablehnungsentscheidung eine Stütze im Gesetz findet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sei dann verletzt, wenn und weil die Ablehnung eines Beweisantrags im Prozessrecht keine Stütze mehr finde, mithin auf sachfremde Erwägungen gestützt sei.
Wenn ein Gericht die Fehlerhaftigkeit der Zielstaatsbezeichnung in einer Abschiebungsandrohung feststellt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in diesem Punkt aber nicht aufhebt und dies auch nicht begründet, dann handelt es sich um eine Überraschungsentscheidung, die den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, meint das Oberverwaltungsgericht Bautzen in seinem Beschluss vom 16. Januar 2023 (Az. 6 A 316/20.A). Mit einer Abweisung der Klage ohne vorherigen Hinweis musste der anwaltlich vertretene Kläger auch bei Berücksichtigung der vertretenen unterschiedlichen Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehren nicht rechnen.
Rechtsanwalt Marcel Keienborg berichtet über den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. Januar 2023 (Az. 8 L 119/23), in dem das Gericht der Ausländerbehörde Düsseldorf aufgibt, bis zur Entscheidung über einen gestellten Antrag auf ein Chancen-Aufenthaltsrecht von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Abgesehen von einigen deutlich unfreundlichen Äußerungen in Richtung der Ausländerbehörde hält das Gericht für relevant, dass trotz der fehlenden Fiktionswirkung des Antrags auf ein Chancen-Aufenthaltsrecht die Regelung des § 104c Abs. 1 AufenthG dem Antragsteller bereits mit der Antragstellung eine im entschiedenen Verfahren schützenswerte Rechtsposition einräume, weil die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Chancen-Aufenthalts einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetze. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Betroffene derzeit eine Duldung habe, wenn er zumindest einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung habe.
Der Europäische Gerichtshof hat mit Beschluss vom 15. Februar 2023 (Rs. C-484/22) festgehalten, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen bereits in einem zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahren und nicht erst später bei Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geschützt werden müssen; dies folge aus Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG. Das nun vom EuGH entschiedene Verfahren war durch ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 8. Juni 2022, Az. 1 C 24.21) initiiert worden.
Eine durch die Ausländerbehörde verfügte Abschiebungsandrohung verfehlt den ihr gemäß § 59 AufenthG beigemessenen Zweck, wenn in dem für ihre Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt feststeht, dass die Durchsetzung der Ausreisepflicht aus zwingenden rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist, so der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Urteil vom 2. Januar 2023 (Az. 12 S 1841/22).
Art. 6 Abs. 1 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG verpflichte dazu, in einer Rückkehrentscheidung, d.h. im nationalen Recht in der Abschiebungsandrohung, dasjenige der in Art. 3 Nr. 3 der EU-Rückführungsrichtlinie abschließend aufgeführten Zielländer der Rückkehr anzugeben, in das der Drittstaatsangehörige abzuschieben ist, der Adressat der Rückkehrentscheidung ist. Benenne eine Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG als Zielland der Rückkehr einen Staat, für den das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt habe, verstoße dies gegen den nach Art. 5 EU-Rückführungsrichtlinie schon bei Erlass der Rückkehrentscheidung einzuhaltenden Grundsatz der Nichtzurückweisung, was aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 22.11.2022 (Rs. C-69/21) auch unionsrechtlich im Sinne eines acte clair geklärt sei.
Der VGH hat außerdem festgehalten, dass ein Drittstaatsangehöriger, für den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt hat, nach § 53 Abs. 1 AufenthG aus generalpräventiven Gründen inlandsbezogen ausgewiesen werden dürfe.
In seinem Urteil vom 9. Februar 2023 (Az. 11247/18, R.M. u.a. gg. Polen) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen wegen einer Verletzung von Art. 5 EMRK verurteilt, weil die nationalen Behörden im Fall einer Inhaftierung von Kindern nicht geprüft hätten, ob die Inhaftierung verhältnismäßig war, d.h. insbesondere, ob nicht ein milderes Mittel in Frage gekommen wäre, und weil sie die Inhaftierung nicht auf das unabweisbar erforderliche zeitliche Minimum beschränkt hätten. Die nationalen Behörden hätten die Betroffenen außerdem nicht ausreichend über die rechtlichen und tatsächlichen Umstände ihrer Inhaftierung informiert, so dass diese die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht ausreichend hätten prüfen können.
Der Bundesgerichtshof ruft in seinem Beschluss vom 17. Januar 2023 (Az. XIII ZB 20/21) in Erinnerung, dass Haftbeschwerdeverfahren und Haftaufhebungsverfahren zwei unterschiedliche Dinge sind. Im entschiedenen Verfahren hatte das Beschwerdegericht den Haftaufhebungsantrag als unzulässig angesehen, weil es bereits über einen Haftbeschwerdeantrag entschieden habe. Solange sich der Betroffene in Haft befinde, so der BGH, könne er jedoch sowohl vor als auch nach Eintritt formeller Rechtskraft im Haftanordnungsverfahren die Aufhebung der Haft ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Haftaufhebungsantrags bei Gericht beantragen, den das Beschwerdegericht nicht als unzulässig hätte zurückweisen dürfen.
Mit Beschlüssen vom 21. November 2022 (1 B 37.22), 14. Dezember 2022 (1 B 51.22) und 19. Dezember 2022 (1 B 73.22) hat das Bundesverwaltungsgericht Nichtzulassungsbeschwerden in Verfahren zurückgewiesen, in denen ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung (1 B 37.22), die grundsätzliche Bedeutung der an die Annahme einer „starken Vermutung“ zu stellenden Anforderungen (1 B 51.22) und die grundsätzliche Bedeutung der Frage der Geltung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in Bezug auf Rumänien (1 B 73.22) geltend gemacht wurden. Das Verfahren 1 C 29.21 hat das BVerwG mit Beschluss vom 5. Dezember 2022 ausgesetzt, weil der Europäische Gerichtshof zunächst die Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen EU-Mitgliedstaat für das deutsche Asylverfahren klären soll.