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Ausgabe 93 • 28.4.2023

Alternative Maßnahme

In einer verfahrensrechtlich geprägten Woche stärkt der EuGH den Individualrechtsschutz bei Rückführungsentscheidungen, untersagt der niederländische Staatsrat Dublin-Überstellungen nach Italien und zweifelt das VG Karlsruhe am litauischen Asylverfahren. Das BVerwG erklärt, wann Revisionen auf Tatsachenfragen gestützt werden können, der 3. Senat des OVG Berlin-Brandenburg hält eine einzelfallübergreifende Klärung der Menschenrechtslage in EU-Staaten für möglich und das OVG Lüneburg präzisiert die Anforderungen an die Begründung einer Divergenzrüge.

Individualschutz durch EU-Rückführungsrichtlinie gestärkt

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. April 2023 (Rs. C-528/21) unter anderem zu einigen Fragen der Auslegung der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG Stellung genommen, die durch neuerliche Kapriolen ungarischer Ausländerbehörden im Jahr 2018 veranlasst waren. In dem Verfahren, das ein ungarisches Gericht dem EuGH vorgelegt hatte, ging es um die Nichtverlängerung der ungarischen Aufenthaltserlaubnis eines Drittstaatsangehörigen, dessen Familie die ungarische Staatsangehörigkeit besaß, und um die Verhängung eines Einreiseverbots gegen diesen Drittstaatsangehörigen, ohne dass eine Rückführungsentscheidung gegen ihn ergangen wäre.

Der EuGH hielt fest, dass Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen des Betroffenen in gebührender Weise berücksichtigen, von mitgliedstaatlichen Gerichten unmittelbar anwendbar sein könne, wenn eine nationale Regelung und ein darauf beruhendes Einreiseverbot gegen Art. 5 der Richtlinie verstießen. Außerdem sei Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie so auszulegen, dass vor Erlass eines Verbots der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union der Gesundheitszustand sowie die familiären Bindungen und das Wohl der minderjährigen Kinder des Betroffenen berücksichtigt werden müssen, wenn das Einreiseverbot unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung über den Entzug der Aufenthaltserlaubnis des Betroffenen und aus denselben Gründen erlassen werde, auch wenn entgegen den Anforderungen der EU-Rückführungsrichtlinie keine Rückführungsentscheidung ergangen sei.

Deutliche Worte fand der EuGH zur Auslegung von Art. 13 der EU-Rückführungsrichtlinie, der Rechtsbehelfe gegen Rückführungsentscheidungen regelt. Er stehe einer nationalen Praxis entgegen, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet werde, mit der Begründung verweigerten, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das Schengener Informationssystem eingegeben worden sei.

Keine Dublin-Überstellungen nach Italien

In zwei Entscheidungen vom 26. April 2023 (Az. 202207368/1 und 202300521/1) hat der niederländische Staatsrat (Raad van State) entschieden, dass Schutzsuchende derzeit nicht im Dublin-Verfahren von den Niederlanden nach Italien überstellt werden dürfen, weil die italienischen Behörden aufgrund fehlender Aufnahmeeinrichtungen keine Unterbringung anbieten. Ohne Unterbringung bestehe die reale Gefahr, dass die Betroffenen ihre wichtigsten Grundbedürfnisse nicht befriedigen könnten, was ihre Menschenrechte verletzen würde. Der niederländische Staatsrat hat zu diesen Urteilen auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Vielleicht systemische Mängel im litauischen Asylverfahren

Es sei derzeit eine offene Tatsachenfrage, ob Schutzsuchenden, die nach der Dublin-III-Verordnung nach Litauen rücküberstellt werden, dort routinemäßig rechtswidrige Freiheitsentziehung durch Anwendung einer „alternativen Maßnahme zur Inhaftierung“ drohe, meint das Verwaltungsgericht Karlsruhe in seinem Beschluss vom 27. März 2023 (Az. A 19 K 391/23), und hat die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine solche Überstellung angeordnet. Außerdem blende die Begründung des mit der Klage angegriffenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von Januar 2023 die Entwicklung des Asylsystems in Litauen seit der erheblichen Zunahme der Einreisen von Drittstaatsangehörigen in den Jahren 2021 und 2022 vollständig aus. Die herangezogene Rechtsprechung, die systemische Mängel im litauischen Asylsystem verneine, datiere aus den Jahren 2017 und früher, gleiches gelte für die herangezogenen Erkenntnismittel. Weiter habe das Bundesamt beim Kläger zwar Dokumente zu seinem litauischen Asylverfahren angefordert, die er auch fristgerecht vorgelegt habe, eine inhaltliche Erfassung der in litauischer Sprache verfassten Dokumente oder gar eine Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung für das Dublin-Verfahren habe indes nicht stattgefunden.

Keine Revision wegen Tatsachenfrage ohne Revisionszulassung

In seinem Beschluss vom 8. März 2023 (Az. 1 B 56.22) hat das Bundesverwaltungsgericht in Erinnerung gerufen, dass für die Zulassung der Revision, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht ausreicht. Der zum 1. Januar 2023 in Kraft getretene § 78 Abs. 8 AsylG ändere hieran nichts, weil den Beteiligten danach gegen das Urteil eines Oberverwaltungsgerichts die Revision abweichend von § 132 Abs. 1 und § 137 Abs. 1 VwGO nur zustehe, wenn das Oberverwaltungsgericht in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweiche und es die Revision deswegen zugelassen habe.

Menschenrechtslage in EU-Staaten allgemeiner Klärung zugänglich

Die Tatsachenfrage, ob Betroffenen, denen in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, in diesem Mitgliedstaat bei einer Rückkehr oder Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh drohen, kann Gegenstand einer Grundsatzrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG sein, meint der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 3. April 2023 (Az. OVG 3 N 18/23). Das OVG lehnte zwar den Antrag auf Zulassung der Berufung in dem Verfahren ab, sah sich aber zu zwar nicht entscheidungsrelevanten, dafür aber sehr ausführlichen Hinweisen veranlasst, warum es von einer Verallgemeinerungsfähigkeit solcher Tatsachenfragen ausgeht.

Sofern die Auffassung vertreten werde, nämlich unter anderem von verschiedenen anderen Senaten des OVG Berlin-Brandenburg, dass die Beantwortung dieser Frage keiner allgemeinen Klärung zugänglich sei, weil sie (stets) von den Umständen des Einzelfalles, nämlich einer Vielzahl von individuellen Umständen und Faktoren, abhänge, folge der Senat dem nicht. Die These sowie die daraus abgeleitete Annahme, dass diese Frage sich nicht abstrakt und allgemein (für die in einen EU-Mitgliedstaat zurückkehrenden Schutzberechtigten) klären lasse, berücksichtige zunächst nicht hinreichend, dass ein nicht (mehr) von individuellen Umständen abhängiger Verstoß gegen Art. 4 GRCh schon denklogisch nicht ausgeschlossen sei, sodass eine Verallgemeinerungsfähigkeit gegeben sein könne. Die Behauptung, alles hänge stets (nur) von den individuellen Umständen des Einzelfalles ab, setze bereits eine Verneinung der Frage voraus, ob die tatsächlichen Verhältnisse für sämtliche Rückkehrer in dem Mitgliedstaat der ersten Asylantragstellung eine Situation extremer materieller Not bedeuteten, aufgrund derer die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh für jede Rückführung bestehe.

Divergenzrüge nicht bei Änderung der tatsächlichen Verhältnisse

Stützt sich ein Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung bei der Beurteilung der Menschenrechtslage in einem Herkunfts- oder Drittstaat (auch) auf neuere Umstände, so hat der Zulassungsantragsteller im Rahmen der Darlegung des Zulassungsgrunds der Divergenz unter Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht angeführten neueren Quellen und Erkenntnissen aufzuzeigen, dass sich die der Entscheidung des Divergenzgerichts zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben, sagt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 14. April 2023 (Az. 10 LA 27/23) und weist einen Berufungszulassungsantrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zurück, weil es auf solche neueren Umstände in seinem Antrag nicht eingegangen sei.

Bundesregierung zur asylgerichtlichen Statistik

Mit Antwort vom 28. Februar 2023 (BT-Drs. 20/5868) hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage im Bundestag beantwortet, in der es unter anderem um asylgerichtliche Statistiken zu Dublin-Verfahren im Jahr 2022 ging. Danach sind vor deutschen Verwaltungsgerichten im Zeitraum von Januar bis November 2022 insgesamt 8.750 gerichtliche Entscheidungen zu Eilanträgen in Dublin-Verfahren ergangen, die meisten davon zu Italien (2.719 Entscheidungen), Polen (956 Entscheidungen) und Kroatien (682 Entscheidungen). Eine Erfolgsquote gerichtlicher Eilanträge von mehr 50 % gab es zu Griechenland (100 %, allerdings nur zwei Entscheidungen), Ungarn (73,7 %) sowie Litauen (50,4 %).