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Ausgabe 95 • 12.5.2023

Realitätsnahe Bewertung

Das VG Köln mahnt eine realitätsnahe Bewertung von Dublin-Überstellungen nach Italien an, das OVG Lüneburg will sich mit dem Thema lieber nicht befassen, das VG Darmstadt will § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG nur noch eingeschränkt anwenden und der EGMR hält die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach 54-jährigem Aufenthalt für menschenrechtswidrig.

Keine Dublin-Überstellung nach Italien

In seinem Beschluss vom 8. Mai 2023 (Az. 23 L 780/23.A) hat das Verwaltungsgericht Köln die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung angeordnet, die eine Dublin-Überstellung nach Italien betraf. Es bestünden wegen der Aussetzung von Dublin-Überstellungen durch Italien durchgreifende systemische Mängel im italienischen Asylverfahren. Bei realitätsnaher Bewertung handele es sich schlichtweg um eine diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“. Dies zeige sich letztlich auch daran, dass diese Haltung Italiens im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung seit nunmehr über fünf Monaten andauere und nicht absehbar sei, ob überhaupt, und wenn ja ab wann, Italien seinen Verpflichtungen aus der Dublin-III-Verordnung wieder nachkommen werde. Ob und inwieweit Italien aufgrund der Dublin-III-Verordnung verpflichtet sei, ausreichende Kapazitäten für Dublin-Rückkehrende vorzuhalten und ob etwa die systemischen Schwachstellen von der italienischen Regierung bewusst herbeigeführt würden, um das Dublin-System zu unterlaufen und politischen Druck auf die anderen Mitgliedsstaaten auszuüben, sei für die Beantwortung der Frage unerheblich, ob dem Antragsteller aufgrund der systemischen Schwachstellen die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh drohe. Dies gelte unabhängig davon, ob Italien tatsächlich keine ausreichenden Aufnahmekapazitäten für Dublin-Rückkehrende vorhalte oder sich bloß weigere, Dublin-Rückkehrende aufzunehmen.

Keine zweitinstanzliche Klärung von Dublin-Überstellungen nach Italien

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg lehnt es in seinem Beschluss vom 26. April 2023 (Az. 10 LA 48/23) ab, einem Antrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf Zulassung der Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil stattzugeben, in dem es um eine Dublin-Überstellung nach Italien geht. Das BAMF habe die grundsätzliche Bedeutung der Fragen, ob es sich bei den derzeitigen Überstellungsaussetzungen Italiens nur um vorübergehende Maßnahmen handele, die zu keiner Verletzung der Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh führten, und ob eine Überstellung des Antragstellers innerhalb eines zumutbaren Zeitrahmens als gesichert angesehen werden könne, nicht hinreichend dargelegt.

§ 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG unionsrechtswidrig

Das Verwaltungsgericht Darmstadt geht in seinem Beschluss vom 3. Mai 2023 (Az. 5 L 705/23.DA) unter Bezugnahme auf den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (Rs. C-484/22) davon aus, dass § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG als unionsrechtswidrig anzusehen ist, soweit Art. 5 Buchst. a und b der EU-Rückführungsrichtlinie entgegensteht. Wenn dies im Einzelfall der Fall sei, müsse § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG insoweit wegen des Anwendungsvorrangs entgegenstehenden Unionsrechts unangewendet bleiben. § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG regelt, dass das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht; Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie bestimmt, dass die EU-Staaten bei der Umsetzung der Richtlinie das Wohl von Kindern und familiäre Bindungen in gebührender Weise berücksichtigen müssen.

Menschenrechtswidrige Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach 54-jährigem Aufenthalt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 9. Mai 2023 (Az. 21768/19, Ghadamian gg. Schweiz) festgestellt, dass die Schweiz die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 8 EMRK verletzt hat, indem sie ihm keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat, obwohl er seit 54 Jahren in der Schweiz lebt. Zwar sei der Aufenthalt des Beschwerdeführers in den vergangenen zwanzig Jahren unerlaubt gewesen und habe er die Vollstreckung seiner Abschiebung aktiv verhindert, er habe jedoch über 33 Jahre rechtmäßig in der Schweiz gelebt. Die innerstaatlichen Behörden hätten trotz ihres Ermessensspielraums unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht nachgewiesen, dass sie einen gerechten Ausgleich zwischen den auf dem Spiel stehenden konkurrierenden Interessen geschaffen hätten, sondern hätten vielmehr dem Allgemeininteresse ein übermäßiges Gewicht beigemessen, als sie dem Beschwerdeführer die Aufenthaltsgenehmigung verweigerten.

Vermischtes vom Bundesgerichtshof

Der Bundesgerichtshof sagt in seinem Beschluss vom 21. März 2023 (Az. XIII ZB 32/22), dass eine gescheiterte Abschiebung kein Hindernis für eine erneute Anordnung von Abschiebungshaft begründet. In seinem Beschluss vom 4. April 2023 (Az. XIII ZB 8/22) geht der BGH davon aus, dass eine geplante Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung nur dann eine Haftdauer von fast sechs Wochen rechtfertigt, wenn die geplante Sicherheitsbegleitung im Haftantrag erwähnt wird.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

In seinem Beschluss vom 20. März 2023 (Az. 1 B 7.23) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde des Landes Berlin in einem Verfahren zurückgewiesen, in dem es um die Berücksichtigungsfähigkeit spezialpräventiver Erwägungen bei der Bestimmung der Länge der Frist eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG ging. Mit Beschluss vom 29. März 2023 (Az. 1 B 5.23) hat das BVerwG eine Nichtzulassungsbeschwerde in einem Verfahren zurückgewiesen, in dem die Frage der Verfolgung wegen einer Einberufung zum Militärdienst in Syrien im Raum stand.