Nochmals zur Nichteinräumung einer Ausreisefrist

In der vergangenen Woche hatte ich behauptet, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 1. August 2025 (Rs. Rs. C-636/23, C-637/23, Al Hoceima) zur Justiziabilität der Nichteinräumung einer Ausreisefrist für die deutsche Rechtspraxis vermutlich keine besonderen Folgen habe würde. Zwischenzeitlich wurde ich allerdings eines Besseren belehrt, weil tatsächlich das Gegenteil der Fall sein wird: Das Bundesverwaltungsgericht hatte 2001 entschieden (Urteil vom 3. April 2001, Az. 9 C 22.00), dass prozessual zwischen der Ausreisefrist und der Abschiebungsandrohung keine „untrennbare Verknüpfung“ bestehe und dass eine rechtswidrige Fristsetzung nicht auch zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führe. Ob dieses Verständnis mit Art. 7 der EU-Rückführungsrichtlinie vereinbar ist, war unter deutschen Gerichten umstritten, bejaht wurde dies etwa noch in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 8. Februar 2023 (Az. 2 LB 268/22), gegen das aber gerade im Hinblick auf diese Frage die Revision zugelassen und auch eingelegt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht hatte das bei ihm anhängige Revisionsverfahren (Az. 1 C 6.23, nunmehr 1 C 33.25) wegen der beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahren ausgesetzt, die nun durch besagtes Urteil abgeschlossen wurden. Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich entschieden, dass eben doch eine gewissermaßen untrennbare Verknüpfung zwischen Fristsetzung und Abschiebungsandrohung besteht, und dass eine rechtswidrige Fristsetzung zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führt. Dem wird sich die deutsche Rechtspraxis anpassen müssen.

Behördlicher Spielraum bei der Setzung einer Ausreisefrist besteht vor allem im Rahmen von § 59 Abs. 1 S. 2 AufenthG, wonach unter bestimmten Umständen eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden kann, wenn der begründete Verdacht auf eine Entziehungsabsicht besteht oder wenn von dem Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei der behördlichen Anwendung dieser Vorschrift sollte ab jetzt genau(er) hingesehen werden, weil Rechtsanwendungsfehler nicht mehr nur die Rechtswidrigkeit der Fristsetzung zur Folge haben werden, sondern eben auch die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung insgesamt.

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ISSN 2943-2871