„Starke“ Bindungswirkung von Schutzgewährung in einem anderen EU-Staat

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 18. Juni 2024 (Rs. C‑352/22) festgestellt, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im europäischen Asylrecht die Auslieferung eines in einem Mitgliedstaat anerkannten Flüchtlings in seinen Herkunftsstaat durch einen anderen Mitgliedstaat verbietet, solange nicht der Mitgliedstaat, der die Flüchtlingsanerkennung ausgesprochen hat, diese zuerst wieder aberkannt hat. In dem Verfahren hatte ein Flüchtling aus der Türkei zunächst in Italien Flüchtlingsschutz erhalten und war später nach Deutschland gezogen, wo er aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Türkei in Haft genommen wurde. Das zuständige Oberlandesgericht Hamm wollte keine gegen eine Auslieferung sprechende Umstände erkannt haben, sah sich jedoch durch den ebenfalls in dem Verfahren ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. März 2022 (Az. 2 BvR 2069/21) zu einem Vorabentscheidungsersuchen vor dem EuGH genötigt.

Diese Entscheidung hat viel Potential: Wenn eine in einem EU-Staat erfolgte Flüchtlingsanerkennung bis zu ihrer späteren Aberkennung durch denselben EU-Staat schon eine Auslieferung in den Herkunftsstaat durch einen anderen EU-Staat verbietet, dann muss das für eine bloße Abschiebung in den Herkunftsstaat erst recht gelten, und für subsidiären Schutz ebenso wie für eine Flüchtlingsanerkennung. Vor diesem Hintergrund dürfte die deutsche Debatte (siehe etwa instruktiv das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17. März 2023, Az. RO 13 K 22.31542), ob das aus § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG folgende Abschiebungsverbot bei ausländischer Ankerkennung als Flüchtling nur solange gilt, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach erneuter Asylantragstellung in Deutschland nicht eine eigene inhaltliche Prüfung des Schutzbegehrens durchgeführt hat, streng genommen gegenstandslos geworden sein. Stattdessen müsste die Schutzgewährung durch einen anderen EU-Staat immer respektiert werden und dürfte an sich auch nie eine Abschiebungsandrohung für den Herkunftsstaat erlassen werden. In der Sache wäre das mit Bezug auf Rückführungen in den Herkunftsstaat, sei es im Rahmen einer Auslieferung oder im Rahmen einer Abschiebung, so etwas wie eine „starke“ Bindungswirkung einer ausländischen Schutzgewährung, die nur durch denjenigen EU-Staat beendet werden kann, der den Schutz ursprünglich gewährt hat.

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ISSN 2943-2871