Folgenabwägung vor Abschiebung nach Griechenland

In seinem erfrischenden Beschluss vom 28. Oktober 2024 (Az. 7 L 1538/24.WI.A) führt das Verwaltungsgericht Wiesbaden in einem Griechenland betreffenden Drittstaatenfall gleich eine ganze Reihe von innovativen Argumenten ins Feld, um im Ergebnis die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsandrohung anzuordnen. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. August 2024 (Az. 2 BvR 44/24) (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 164) geht es davon aus, dass dann, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, eine nicht lediglich summarische, sondern eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache geboten sei. Darum müsse in Drittstaatenfällen auch in Eilverfahren eine an sich umfassende Prüfung der menschenrechtlichen Situation des Betroffenen im Fall der Abschiebung in den Dublin-Zielstaat erfolgen.

Weil allerdings die gebotene umfassende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache zum Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung nicht mit der gebotenen Sicherheit zu leisten sei, könne es offenbleiben, ob in Griechenland eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh drohe. Der Wertung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel in seinem Urteil vom 4. August 2024 (Az. 2 A 1131/24.A) (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 161) stünden die Entscheidungen zahlreicher anderer Obergerichte entgegen, auch in der erstinstanzlichen Rechtsprechung habe sich in jüngster Zeit keine einhellige Meinung über die Abschiebungslage in Griechenland gebildet. Die Erfolgsaussichten der gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs zugelassenen und eingelegten Tatsachenrevision seien ebenso offen.

Darum seien die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage nicht angeordnet würde, die Klage in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage erlassen würde, die Klage in der Hauptsache aber erfolglos bliebe. Diese Folgenabwägung führe dazu, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. So sei etwa nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger in Griechenland tatsächlich Obdach, Arbeit und Grundversorgung erhalten könne, und sei nicht sichergestellt, dass der Kläger nach einer Abschiebung nach Griechenland im Falle eines anschließenden Obsiegens in der Hauptsache überhaupt Kenntnis von einer solchen Entscheidung erhalte, was seine Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigen würde. Das öffentliche Interesse an der effektiven und zeitnahen Beendigung des Aufenthalts ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger sei demgegenüber weniger stark betroffen, weil der weitere Aufenthalt des Klägers in Deutschland nur einige Monate für die Dauer des Verfahrens der Tatsachenrevision und der dann sich zügig anschließenden Entscheidung in der Hauptsache andauern würde.

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ISSN 2943-2871