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Ausgabe 164 • 27.9.2024

Unionsrechtliche Frage

Das Bundesverfassungsgericht hält es für verfassungswidrig, wenn Verwaltungsgerichte laufende Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH nicht kennen und darum in Eilverfahren nicht berücksichtigen - da würde etwa die regelmäßige Lektüre des HRRF-Newsletters helfen 🙂. Diese Entscheidung wird hier außerdem zum Anlass genommen, ausführlicher und systematischer als bislang über Vorabentscheidungsersuchen zu berichten. Den Anfang macht eine aktuelle Vorlage des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts, in der es um die Zumutbarkeit des Freikaufs vom Wehrdienst in Syrien geht. Außerdem geht es in dieser Woche um systemische Schwachstellen in Griechenland, unbegleitete Minderjährige, Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, das Wiederaufleben der Fiktionswirkung, die Bezahlkarte, eine Abschiebung vor Abschluss des Asylverfahrens und Abschiebungshaft.

Asylverfahrensrecht

Grundrechtsverstoß bei Unkenntnis anhängiger Vorabentscheidungsverfahren

Es verstößt gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn ein Verwaltungsgericht eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den Europäischen Gerichtshof erfordert, im Eilverfahren bei der Prüfung der Erfolgsaussichten nicht berücksichtigt, sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 13. August 2024 (Az. 2 BvR 44/24) und hat darum einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen aus dem Dezember 2023 aufgehoben. In einer solchen Situation werde nämlich die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts regelmäßig nicht bejaht werden können; dies gelte auch dann, wenn lediglich in einem anderen Verfahren bereits eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgt sei.

Die im konkreten Verfahren entscheidungserhebliche Frage, ob § 71a AsylG mit der EU-Asylverfahrensrichtlinie vereinbar sei, sei zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Dezember 2023 höchst umstritten gewesen. Das Verwaltungsgericht habe zwar auf eine Entscheidung des ihm übergeordneten Oberverwaltungsgerichts Lüneburg von Dezember 2022 verwiesen, wonach die Frage bereits geklärt und § 71a AsylG mit europäischem Recht vereinbar sei, habe dabei aber übersehen, dass das Oberverwaltungsgericht keine Kenntnis von den durch das Verwaltungsgericht Minden anhängig gemachten neuen Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof hatte, die erst im Juli 2023 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, und diese ebenso wenig berücksichtigen konnte wie die in der Folge ergangene Rechtsprechung von Verwaltungsgerichten aller Instanzen, die sich mit diesen Vorabentscheidungsverfahren auseinandersetzten.

Der ohne eigene erkennbare Prüfung und Begründung erfolgte schlichte Verweis des Verwaltungsgerichts auf die genannte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts übergehe somit die anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, ihre möglichen Auswirkungen auf anhängige einstweilige Rechtsschutzverfahren sowie den rechtstatsächlichen Umgang anderer Verwaltungsgerichte mit ihnen. Dies genüge den anwendbaren verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das Bundesverwaltungsgericht bereits im August 2023 (Beschluss vom 1. August 2023, Az. 1 C 19.22) ein Revisionsverfahren ausgesetzt hat, in dem die vom Verwaltungsgericht Minden initiierten Vorabentscheidungsverfahren entscheidungserheblich waren und sind (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 109). Vor diesem Hintergrund ist noch weniger verständlich, warum die laufenden Vorabentscheidungsverfahren dem Verwaltungsgericht Göttingen noch im Dezember 2023 offenbar nicht bekannt waren.

Materielles Flüchtlingsrecht

EuGH-Vorlage zum Freikauf vom Wehrdienst in Syrien

Das österreichische Bundesverwaltungsgericht hat dem Europäischen Gerichtshof mit Beschluss vom 12. September 2024 (Az. W261 2289490-1) Fragen vor allem zur Auslegung der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vorgelegt, in denen es darum geht, ob die Möglichkeit zum Freikauf vom Wehrdienst ein Mittel zur Abwendung von drohenden Verfolgungshandlungen wegen Militärdienstverweigerung oder unverhältnismäßiger Bestrafung ist.

Das Gericht fragt insbesondere, ob die Zahlung einer Geldleistung an einen Staat, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2011/95 fallen, eine indirekte Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen bedeuten würde, ob es auf die Höhe der Zahlung ankommt, ob die Zahlung einer Befreiungsgebühr zumutbar ist, wenn ein Schutzsuchender es aus einer religiösen Grundhaltung oder politischen Meinung ablehnt, diese Gebühr zu leisten und ob eine solche Zahlung nicht ohnehin gegen die EU-Sanktionen gegen Syrien verstoßen würde. Das Gericht hat zu seinem Beschluss auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Dublin-Verfahren usw.

Immer noch systemische Schwachstellen in Griechenland

Das Verwaltungsgericht München geht in seinem ausführlich begründeten Urteil vom 29. August 2024 (Az. M 17 K 23.30508) davon aus, dass Schutzberechtigten in Griechenland immer noch die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergebe sich keine hinreichende Verbesserung der Lage Schutzberechtigter in Griechenland. Soweit zuletzt pauschal angenommen werde, dass junge, gesunde, arbeitsfähige, körperlich belastbare und mit hinreichender Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative ausgestattete Männer ihre Existenzgrundlage in Griechenland vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände sicherstellen könnten, decke sich dies nicht mit den dargelegten Erkenntnissen.

Asylverfahrensrecht

Maßgeblicher Zeitpunkt für Minderjährigkeit unklar

Das Verwaltungsgericht Berlin weiß in seinem Beschluss vom 19. September 2024 (Az. 4 L 483/24 A) auch nicht so recht, auf welchen Zeitpunkt es bei der Anwendung von § 30 Abs. 2 AsylG ankommen soll, wonach Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger nicht aus den in § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG genannten Gründen als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden dürfen. Es könne entweder auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder auf den Zeitpunkt der Anhörung ankommen, nicht aber auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag oder den einer gerichtlichen Entscheidung.

Aufenthaltsrecht

Sperrwirkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten

Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 26. September 2024 über sein Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 11.23), in dem es entschieden hat, dass § 36a AufenthG den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich abschließend regelt und einen Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG sperrt, wenn sich die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise allein auf bereits vor der Einreise bestehende familiäre Bindungen zu dem subsidiär Schutzberechtigten stützt.

§ 36a AufenthG setze das Vorliegen humanitärer Gründe, die u.a. im Schutz von Ehe und Familie wurzelten, tatbestandlich voraus, unberührt bleibe daneben gemäß § 36 Abs. 1 Satz 4 AufenthG lediglich die Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln nach den §§ 22, 23 AufenthG. Die daraus resultierende Sperrwirkung des § 36a AufenthG eröffne daher Raum für die Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG nur im Falle nachträglich im Bundesgebiet eintretender Ereignisse.

Aufenthaltsrecht

Kein Wiederaufleben der Fiktionswirkung

Die durch einen ablehnenden Bescheid erloschene Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG lebt durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis nicht wieder auf, meint das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 20. August 2024 (Az. OVG 6 S 32/24, OVG 6 M 63/24). Etwas anderes gelte auch nicht deshalb, weil die aufschiebende Wirkung von Widerspruch bzw. Klage gegen die ablehnende Bescheidung dazu führe, dass deren Vollziehbarkeit gehemmt sei. Die Frage scheint umstritten zu sein, anderer Ansicht ist etwa der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 11. Mai 2021 (Az. 11 S 2891/20).

Aufnahmebedingungen

Vielleicht ein Pyrrhussieg für die Bezahlkarte

Das Oberlandesgericht Karlsruhe berichtet in einer Pressemitteilung vom 20. September 2024 über seine Entscheidung vom selben Tag (Az. 15 Verg 9/24, der Volltext liegt noch nicht vor), die aufschiebende Wirkung der Beschwerde eines im Vergabeverfahren zur Einführung der Bezahlkarte unterlegenen Bieters nicht zu verlängern.

Bei Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen würden die nachteiligen Folgen überwiegen, die dadurch eintreten könnten, wenn sich die Vergabe des Auftrags zeitlich weiter verzögere. In dem Vergabeverfahren hatten 14 Bundesländer gemeinsam den Abschluss einer Rahmenvereinbarung für ein Bezahlkartensystem ausgeschrieben, Medienberichten zufolge (siehe etwa hier und hier) sind aber noch Fragen offen, insbesondere die Frage, ob nur die Bundesländer selbst oder auch die kreisfreien Städte und Landkreise Bezahlkarten aus der Rahmenvereinbarung abrufen dürfen.

Das Oberlandesgericht wird mit der Aussage zitiert, dass es selbst für einen juristisch ungebildeten Laien ein klar erkennbarer Rechtsverstoß sei, dass die Kommunen in der Vergabe nicht ordnungsgemäß benannt wurden und dass dies im Beschwerdeverfahren früher hätte gerügt werden müssen. Die Bundesländer dürften den Rahmenvertrag zwar für sich selbst abschließen, eine mögliche Beteiligung der Kommunen sei aber offen, möglicherweise müssten alle Kommunen in den betroffenen 14 Bundesländern ein weiteres Vergabeverfahren durchführen. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht geht Mitte Oktober 2024 weiter.

Aufenthaltsbeendigung

Abschiebung vor bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens zulässig

§ 60 Abs. 9 AufenthG, wonach einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, aus bestimmten Gründen abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden kann, ist auch dann anzuwenden, wenn der Asylantrag des Ausländers bereits abgelehnt wurde und gegen diese Ablehnung eine Klage erhoben wurde, die nach § 75 AsylG aufschiebende Wirkung hat, meint das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 9. September 2024 (Az. 11 L 17/24), zu dem es auch eine Pressemitteilung veröffentlicht hat.

Es liefe dem gesetzgeberischen Ziel zuwider, wenn bereits eine nicht bestandskräftige Entscheidung über den Asylantrag den Anwendungsbereich von § 60 Abs. 9 AufenthG ausschließen würde. In solchen Fällen könnten Ausländer, deren Asylanträge einfach unbegründet abgelehnt wurden, während eines sich anschließenden asylgerichtlichen Verfahrens nicht abgeschoben werden könnten, weil nach Erlass der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung keine Befugnis der Ausländerbehörden mehr zum Erlass einer Abschiebungsandrohung bestünde. Dieser Vorrang der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung solle aber durch die Vorschrift in § 60 Abs. 9 AufenthG gerade durchbrochen werden.

Abschiebungshaftrecht

Doch gemeinsamer Vollzug von Abschiebungshaft und Sicherungsverwahrung

Das Landgericht Berlin widerspricht in seinem Beschluss vom 29. August 2024 (Az. 84 T 133/24 B) dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten, das in seinem Beschluss vom 17. Juni 2024 (Az. 383 XIV 1037/24 B) den gemeinsamen Vollzug von Abschiebungshaft und Sicherungsverwahrung für unzulässig gehalten hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 152).

Das Trennungsgebot sei nicht verletzt, wenn Abschiebungshäftlinge und Sicherungsverwahrte auf voneinander getrennten und verschlossenen Fluren eines grundsätzlich zur Unterbringung von Sicherungsverwahrten bestimmten Gebäudes untergebracht seien. Auf das Trennungsgebot des § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG, nach dem Abschiebungsgefangene getrennt von Strafgefangenen unterzubringen seien, käme es nur bei einer Unterbringung der Abschiebungsgefangenen in einer sonstigen Haftanstalt an, was hier nicht der Fall sei.

Abschiebungshaftrecht

Vermischtes vom Bundesgerichtshof

Wenn ein von Abschiebungshaft Betroffener wünscht, dass von der Haftanordnung eine bestimmte Person seines Vertrauens oder ein bestimmter Angehöriger benachrichtigt werden soll, dann erfüllt das Haftgericht die Benachrichtigungspflicht aus Art. 104 Abs. 4 GG nicht, wenn es stattdessen einen Rechtsanwalt benachrichtigt, der sich im Haftanordnungsverfahren nicht als Bevollmächtigter bestellt hat, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 10. September 2024 (Az. XIII ZB 52/21). In einem weiteren Beschluss vom 10. September 2024 (Az. XIII ZB 72/20) hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass ein Haftantrag unzulässig ist, wenn in ihm die Angabe zum gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen fehlt.

Sonstiges

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Mit Beschluss vom 26. August 2024 (Az. 1 B 28.24) hat das Bundesverwaltungsgericht festgehalten, dass das Fehlen eines Hinweises in einer Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung eines Rechtsmittels jedenfalls dann nicht zur Unrichtigkeit der Belehrung führen kann, wenn die Belehrung keinerlei Angaben zu möglichen Einreichungsformen enthält, und dass eine Rechtsbehelfsbelehrung auch dann nicht fehlerhaft ist, wenn sie in einer kleineren Schriftgröße (10 pt) als der übrige Beschluss (12 pt) verfasst ist. In einem Beschluss vom 3. September 2024 (Az. 1 A 1.24) weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass es nicht in erster Instanz für Klagen gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines Visums zuständig ist.