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Ausgabe 117 • 13.10.2023

Umfassende Verfahrensgarantien

Das BVerwG muss sich vielleicht bald wieder mit Italien befassen, das BAMF schneller entscheiden und Ungarn Kritik vom EGMR einstecken. Die Eheschließung mit einem deutschen Staatsbürger schützt nicht vor der Nachholung des Visumverfahrens im Ausland und ein syrischer Flüchtling darf seinen Studiengang wechseln.

Vielleicht noch eine Tatsachenrevision zu Italien

Mit Beschluss vom 27. September 2023 (Az. 24 B 22.30953) hat der Verwaltungsgerichtshof München die Tatsachenrevision zum Bundesverwaltungsgericht gemäß § 78 Abs. 8 AsylG in einem Verfahren zugelassen, das die Aufnahmesituation anerkannt Schutzberechtigter in Italien betrifft. Erst vor Kurzem war eine bereits beim BVerwG anhängige Tatsachenrevision zur selben Frage aus formalen Gründen gescheitert (siehe HRRF-Newsletter Nr. 115). Der VGH München geht in seinem Beschluss davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigten in Italien zwar Obdachlosigkeit im Sinne einer dauerhaften Wohnungslosigkeit drohe, es ihnen aber dennoch möglich sei, einen Lebensstandard zu halten, der noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRCh liege. Der VGH weicht damit von der Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Münster (Urteil vom 20. Juli 2021, Az. 11 A 1674/20.A) ab, liegt jedoch auf einer Linie mit dem Oberverwaltungsgericht Koblenz (Urteil vom 27. März 2023, Az. 13 A 10948/22.OVG).

Besonderes Rechtschutzbedürfnis für reine Bescheidungsklage

In seinem lesenswerten Urteil vom 15. September 2023 (Az. 7 K 573/23) verpflichtet das Verwaltungsgericht Bremen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dazu, die Asylanträge der Klägerinnen vom 30. Mai 2016 (!) zu bescheiden. Das besondere Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Bescheidungsklage folge aus den unions- und bundesrechtlichen Vorgaben zur Struktur des Asylverfahrens mit der daraus folgenden hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens, den daran anknüpfenden umfassenden Verfahrensgarantien für das behördliche Verfahren und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. In dem Verfahren hatte das Bundesamt die Asylanträge im Februar 2018 zunächst als unzulässig abgelehnt. Diese Entscheidung war im Mai 2022 rechtskräftig aufgehoben worden, das Verwaltungsgericht sieht keinen zureichenden Grund, warum seit dann keine Entscheidung in der Sache ergangen sei. Das Bundesamt sei zum Zeitpunkt der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung gehalten, das bereits über sechs Jahre andauernde Asylverfahren der Klägerinnen mit besonderem Nachdruck zu betreiben, der diesbezüglich vorgebrachte Erklärungsansatz einer steigenden Anzahl an Verfahren sei gänzlich vage geblieben. Außerdem bedürfe gemäß § 24 Abs. 4 AsylG bereits die Überschreitung einer Frist von sechs Monaten grundsätzlich einer besonderen Rechtfertigung.

Ungarn räumt beim EGMR ab

In seinem Urteil vom 12. Oktober 2023 (Az. 56417/19 und 44245/20, S.S. u.a. gg. Ungarn) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ungarn in zehn Fällen wegen der Verletzung von Art. 4 des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK (Verbot der Kollektivausweisung) und von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung) verurteilt. Die Betroffenen hatten Ungarn im April bzw. Dezember 2019 auf dem Luftweg aus dem Jemen bzw. aus Dubai kommend erreicht und am Flughafen in Budapest Asylanträge gestellt, woraufhin sie von den ungarischen Behörden noch am Tag ihrer Ankunft auf dem Landweg nach Serbien abgeschoben wurden, ohne dass ihre Asylanträge geprüft worden wären, und ohne dass Ungarn geprüft hätte, dass die Betroffenen in Serbien tatsächlich Zugang zu einem Asylverfahren haben würden.

Mit Urteil vom 5. Oktober 2023 (Az. 53528/19, O.Q. gg. Ungarn) hat der EGMR Ungarn in einem Fall verurteilt, in dem der Beschwerdeführer zwischen August 2018 und März 2019 in einer Transitzone an der ungarischen Grenze inhaftiert war und zu Beginn seiner Inhaftierung Nahrungsmittel erst nach sechs Tagen und nach einer Eilentscheidung des EGMR erhalten hatte. Ungarn habe gegen die Rechte des Betroffenen aus Art. 3 EMRK und Art. 5 (Recht auf Freiheit) EMRK verstoßen. Die Sachverhalte, und die Entscheidungen des EGMR, in weiteren Urteilen vom 5. Oktober 2023 (Az. 58680/18, M.A. u.a. gg. Ungarn und Az. 53272/17, P.S. u. A.M. gg. Ungarn) sind vergleichbar.

In noch einem Urteil vom 5. Oktober 2023 (Az. 37967/18, Shahzad gg. Ungarn, 2. Fall) hat der EGMR hinsichtlich des bereits aus seinem Urteil vom 8. Juli 2021 (Az. 12625/17, Shahzad gg. Ungarn) bekannten Beschwerdeführers festgestellt, dass ungarische Grenzpolizisten den Beschwerdeführer im August 2016 an der Grenze zu Serbien zusammengeschlagen hätten und dass das nachfolgende Strafverfahren gegen die Beamten nicht effektiv gewesen sei, was beides gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe.

Keine Verfahrensduldung zur Vermeidung eines Visumverfahrens in Russland

Die Erteilung einer Duldung sei nicht der vom Aufenthaltsgesetz vorgesehene Weg zur Ermöglichung des familiären Zusammenlebens eines Ausländers mit seinen deutschen Familienangehörigen, sagt der Verwaltungsgerichtshof Kassel in seinem Beschluss vom 15. September 2023 (Az. 3 B 2020/22), und der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf sei von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Allein der Wunsch der Antragstellerin, die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrem deutschen Ehemann dauerhaft im Bundesgebiet aufrechterhalten zu können, rechtfertige da keine Ausnahme, weil sie mit einem Schengen-Visum, jedoch auch mit der Absicht eines dauerhaften Aufenthalts im Bundesgebiet, eingereist sei. Einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels habe die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, da sie durch ihre unerlaubte Einreise und ihren jetzt schon mehr als 15 Monate andauernden illegalen Aufenthalt einen schwerwiegenden Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG begangen habe. Der Antragstellerin sei die Ausreise zur Durchführung des Visumverfahrens in der Russischen Föderation auch nicht unzumutbar.

Das ist zwar alles durchaus ständige Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte, ein ganz klein wenig guten Willen hätte man aber doch wohl erwarten können. Immerhin wird Art. 6 GG (Schutz von Ehe und Familie) im Beschluss insgesamt neunmal erwähnt, das ist doch auch schon etwas.

BAföG-Anspruch eines syrischen Flüchtlings nach Wechsel des Studiengangs

Das Oberverwaltungsgericht Münster informiert in einer Pressemitteilung über sein Urteil vom 25.09.2023 (Az. 12 A 1659/21), in dem es entschieden hat, dass ein aus Syrien stammender Flüchtling, der in seinem Heimatland acht Semester lang islamische Rechtswissenschaften studiert und nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Studium der Sozialen Arbeit aufgenommen hat, dafür Ausbildungsförderung beanspruchen kann. Der Kläger müsse sich an seiner im Heimatland getroffenen Ausbildungswahl nicht festhalten lassen, da ein rechtswissenschaftliches Studium in Deutschland aufgrund der diametralen Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme und -ordnungen beider Länder offensichtlich eine andere Fachrichtung darstelle als in Syrien. Das Urteil liegt im Volltext noch nicht vor, das OVG hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.