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Ausgabe 165 • 4.10.2024

Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal

In dieser Woche geht es um Flüchtlinge aus dem Gaza-Streifen, um Wehrpflichtige aus Tschetschenien und um noch ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, das die italienischen Dublin-Rundschreiben aus dem Dezember 2022 zum Gegenstand hat. Weitere Themen dieser Newsletter-Ausgabe sind das Vernichten von Identitäts- oder Reisedokumenten, der Anwendungsbereich der EU-Rückführungsrichtlinie, die Verwahrung von Reisepässen, die Missachtung gerichtlicher Eilbeschlüsse bei Abschiebungen und eine Staatshaftungsklage wegen Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-ungarischen Grenze.

Materielles Flüchtlingsrecht

Mindestens subsidiärer Schutz infolge willkürlicher Gewalt im Gazastreifen

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat in zwei Urteilen vom 24. September 2024 (Az. A 7 K 1647/24 und A 7 K 4112/24) zur Situation im Gazastreifen Stellung genommen. Der bewaffnete Konflikt im Gazastreifen erreiche einen so hohen Grad an willkürlicher Gewalt, dass dort praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre und ihr subsidiärer Schutz zuerkannt werden müsse; außerdem werde der Schutz oder Beistand von UNRWA für Staatenlose palästinensischer Herkunft im Gazastreifen im Sinne von § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG nicht länger gewährt, so dass Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft ipso facto zuzuerkennen sei.

Materielles Flüchtlingsrecht

Kein Schutz für tschetschenische Wehrpflichtige

In zwei Urteilen vom 22. August 2024 (Az. 12 B 17/23 und 12 B 18/23) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass ungediente junge Männer russischer Staatsangehörigkeit und tschetschenischer Volkszugehörigkeit in Russland keine Gefahr laufen, für einen Kampfeinsatz in der Ukraine rekrutiert zu werden, jedenfalls wenn sie sich außerhalb Tschetscheniens aufhalten. Zwar bestehe in Tschetschenien die Gefahr, außerhalb einer Einberufung zum Wehrdienst zwangsweise für sogenannte Freiwilligenbataillone für einen Kampfeinsatz in der Ukraine rekrutiert zu werden, jedoch könnten sich betroffene Tschetschenen grundsätzlich in anderen Landesteilen Russlands niederlassen und seien dort vor Verfolgung sicher, soweit sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten seien und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen oder tschetschenischen Sicherheitsbehörden anzunehmen sei. Tschetschenen würden dort nach den allgemeinen Regeln und ohne Berücksichtigung der in Tschetschenien geltenden Quote für die Ableistung des Wehrdiensts herangezogen, ihnen drohe aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Kampfeinsatz in der Ukraine, Einsätze von Grundwehrdienstleistenden auf russischem Territorium in Grenzregionen zur Ukraine zur Abwehr ukrainischer Gegenoffensiven stellten keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung dar. Das Oberverwaltungsgericht hat die in erster Instanz in Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes erfolgreichen Klagen insgesamt abgewiesen.

Dublin-Verfahren usw.

Noch ein Vorabentscheidungsverfahren zu den italienischen Dublin-Rundschreiben

Das Verwaltungsgericht Sigmaringen fragt in seinem Beschluss vom 7. Mai 2024 (Az. A 4 K 1979/23) sich, und den Europäischen Gerichtshof, ob nicht bereits die fehlende Bereitschaft eines nach der Dublin-III-Verordnung zuständigen Staats zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern zum Übergang der Dublin-Zuständigkeit führen muss. Eine solche Weigerung sei ein von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO nicht vorgesehener Systembruch, dem durch ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Aufnahmebereitschaft des zuständigen Dublin-Staats zu begegnen sei (so einen Ansatz hatte etwa bereits das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. August 2016, Az. 1 C 6.16 vertreten). Eine solche Annahme mache außerdem eine Prüfung entbehrlich, ob die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat gegen Art. 4 GRCh verstießen. Für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof dies anders sehen sollte, fragt das Verwaltungsgericht, ob in solchen Fällen die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig in Deutschland nicht gegen die EU-Asylverfahrensrichtlinie verstoße, weil sie faktisch zu einer Situation führe, in der sich bis zum Ablauf der Überstellungsfrist kein Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig fühle. Daneben will das Verwaltungsgericht wissen, ob die Weigerung des zuständigen Mitgliedstaats zur Aufnahme möglicherweise subjektive Rechte des Betroffenen aus der Dublin-III-Verordnung verletzt. Das Vorabentscheidungsverfahren wird beim Europäischen Gerichtshof als Rechtssache C-458/24 geführt; das Verwaltungsgericht hat angeregt, das Verfahren mit den beiden Anfang 2024 vom Oberverwaltungsgericht Münster zu den italienischen Dublin-Rundschreiben initiierten Vorabentscheidungsverfahren (C-185/24 und C-189/24, siehe HRRF-Newsletter Nr. 136) zusammenzulegen.

Asylverfahrensrecht

Kein Vernichten von Identitäts- oder Reisedokumenten bei feststehender Identität

Nach dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG liegt ein Fall der offensichtlichen Unbegründetheit nur dann vor, sagt das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 23. September 2024 (Az. 19a L 1394/24.A), wenn ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden „ermöglicht hätte“, vernichtet worden ist. Daraus folge, dass Unkenntnis oder Zweifel über die Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden vorliegen müssten, die bei Vorliegen eines der genannten Dokumente nicht bestehen würden. Stehe hingegen die Identität und Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden trotz der Vernichtung der Identitäts- und Reisedokumente fest, könne sein Asylantrag regelhaft auf seine einfache Begründetheit hin geprüft werden.

Aufenthaltsrecht

Rückführungsrichtlinie regelt humanitären Aufenthalt nicht

Trotz einer Bezugnahme auf die Gewährung humanitärer Aufenthaltstitel in Art. 6 Abs. 4 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG ist die Richtlinie auf eine Gewährung solcher Aufenthaltstitel nicht anzuwenden, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Beschluss vom 26. September 2024 (Rs. C-143/24). Die Frage war aus Sicht des vorlegenden belgischen Gerichts relevant, weil das belgische Recht offenbar den Verfahrensstandards der Richtlinie nicht entspricht, wenn es um die Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln geht.

Aufenthaltsrecht

In der Regel keine einstweilige Herausgabe eines in Verwahrung genommenen Reisepasses

Ein Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung mit dem Ziel der Herausgabe eines von der Ausländerbehörde nach § 50 Abs. 5 AufenthG in Verwahrung genommenen Reisepasses liegt wegen der damit angestrebten Vorwegnahme der Hauptsache nur dann vor, wenn der Ausländer das Entstehen schwerer und unzumutbarer, später nicht wieder gut zu machender Nachteile durch die fortdauernde Verwahrung des Reisepasses glaubhaft macht, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 15. August 2024 (Az. 2 M 66/24). Insbesondere werde ein Reisepass nicht zur Eröffnung eines Bankkontos in Deutschland benötigt, außerdem komme bei Einbehaltung des Passes oder Passersatzes gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthV die Ausstellung eines Ausweisersatzes nach § 48 Abs. 2 AufenthG in Betracht. Darüber hinaus genügten Ausländer selbst in den Fällen, in denen keine Duldungsbescheinigung ausgestellt wird, ihrer Ausweispflicht nach § 48 AufenthG jedenfalls bereits dadurch, dass ihnen eine Bescheinigung über die Verwahrung nach § 50 Abs. 5 AufenthG zur Verfügung gestellt werde.

Aufenthaltsbeendigung

Weitere Fälle der Missachtung gerichtlicher Eilbeschlüsse bei Abschiebungen

Das Abschiebungsreporting NRW berichtet am 2. Oktober 2024 über zwei weitere Fälle von Abschiebungen aus Deutschland im November 2023 und im Dezember 2023, in denen die an der Abschiebung beteiligten Behörden gerichtliche Eilbeschlüsse ignoriert und Abschiebungen nicht abgebrochen haben, obwohl die Gerichte dies angeordnet hatten. Im HRRF-Newsletter wurden solche Fälle zuletzt in Ausgabe Nr. 152 dokumentiert.

Sonstiges

Staatshaftungsklage wegen Binnengrenzkontrollen

Eine ungarische Rechtsanwaltskanzlei hat einem Medienbericht zufolge die Republik Österreich auf Schadensersatz verklagt, weil Österreich Grenzkontrollen an der österreichisch-ungarischen Grenze durchführt. Die Kläger hätten aufgrund der Grenzkontrollen einen Stau an der Grenze umfahren müssen und dadurch einen Schaden in Höhe von 19 Cent erlitten, den sie vom österreichischen Statt ersetzt verlangen.

Sonstiges

HRRF-Monatsübersicht für September 2024 verfügbar

Die HRRF-Monatsübersicht für September 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf neun Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat September 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen, darunter auf einer Seite eine Übersicht von gerichtlichen Leitentscheidungen, die im aktuellen asylpolitischen Diskurs relevant sind.