In einem Eilbeschluss vom 28. Juni 2024 (Az. 2 BvQ 49/24) hat das Bundesverfassungsgericht die Generalstaatsanwaltschaft Berlin angewiesen, die geplante Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Ungarn einstweilen nicht faktisch umzusetzen, also den Betroffenen insbesondere „nicht außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes zu verbringen und nicht an ungarische Behörden zu übergeben“. Geholfen hat das allerdings nicht, weil die Generalstaatsanwaltschaft bereits vor Einleitung des Eilverfahrens, und noch während des laufenden Eilverfahrens, in einer „Nacht- und Nebelaktion“ Fakten geschaffen hat und den Betroffenen doch nach Ungarn überstellt hat. Die Polizei soll Skrupel gehabt haben, die Generalstaatsanwaltschaft daraufhin behauptet haben, dass eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine aufschiebende Wirkung habe. Einigermaßen pointierte Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts und der Generalstaatsanwaltschaft Berlin zeugen von deutlicher Verstimmung beim Gericht sowie mindestens von fehlendem Unrechtsbewusstsein bei der Generalstaatsanwaltschaft. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in solchen Verfahren gängig sei und eine Kenntnis dieser Praxis den Mitarbeitenden der Behörden „auf dieser Karrierestufe“ zugetraut werden könne.
Auch im Migrationsrecht ist ein solches mutmaßlich rechtswidriges Behördenvorgehen nicht unbekannt, etwa bei einer Abschiebung nach Simbabwe im Oktober 2017, als ein Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Hannover missachtet wurde, bei der Abschiebung von Sami A. nach Tunesien im Juli 2018, als die Behörden einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen missachteten, oder als im November 2022 bei einer Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo ein Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf ignoriert wurde. Das Rundschreiben des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 11. November 2022, das die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden an das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes erinnert, spricht zutreffend von „Rechtsvereitelung“, die von Behörden in solchen Fällen betrieben wird.
Wenn vorläufiger Rechtsschutz nicht mehr helfen kann, muss bei entsprechender „Risikoexposition“ von Betroffenen vielleicht vorbeugender gerichtlicher Rechtsschutz mehr als bislang in den Blick genommen werden. Vorbeugender Rechtsschutz kann beantragt und gewährt werden, bevor eine behördliche Vollstreckungsmaßnahme begonnen hat, er wird für zulässig gehalten, wenn ein „qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis“ vorliegt. Das soll der Fall sein, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass eine Behörde sehr schnell handeln und Fakten schaffen will, so dass vorläufiger Rechtsschutz zu spät käme, und wenn die geschaffenen Fakten irreversibel wären, also nicht wiedergutzumachende Nachteile drohen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen in der Vergangenheit etwa 1999 in einem Verfahren bejaht, in dem es um die Rückholung von Kindern ging, die von einem Elternteil nach Deutschland verbracht worden waren: Sofern das zuständige deutsche Oberlandesgericht einen Rückführungsanspruch des anderen Elternteils bejahen würde, sei diese Entscheidung unmittelbar vollstreckbar und gäbe es keine Möglichkeit, hiergegen effektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen; hätten die Kinder das deutsche Hoheitsgebiet verlassen, könnten die Wirkungen der Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 4. Juli 2024 in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, dass die für das Individualbeschwerdeverfahren H.M.M. u.a. gegen Lettland (Az. 42165/21) zuständige Kammer des Gerichtshofs ihre Zuständigkeit an die Große Kammer des EGMR abgegeben hat. In dem Verfahren geht es um 26 irakische Staatsangehörige, die im Sommer 2021 an der lettisch-belarussischen Grenze gestrandet waren und die Lettland unter anderem Pushbacks nach Belarus vorwerfen. Der Gerichtshof hat bereits ähnliche Verfahren zu Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze (siehe HRRF-Newsletter Nr. 151) und an der litauisch-belarussischen Grenze (siehe die Pressemitteilung des Gerichts vom 17. April 2024) auf die Große Kammer übertragen, was auf eine bevorstehende Grundsatzentscheidung hindeutet.
In zwei Urteilen vom 2. Juli 2024 (Az. 63076/19, K.A. gg. Zypern und 24607/20, B.A. gg. Zypern) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass Zypern die Rechte von zwei Schutzsuchenden aus Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit) verletzt hat, indem es sie unter Berufung auf Gründe der nationalen Sicherheit während ihrer Asylverfahren inhaftiert hat und weil Beschwerden der Betroffenen gegen ihre Inhaftierung von den zuständigen Gerichten über längere Zeiträume nicht bearbeitet wurden. In dem einen Verfahren war die Beschwerde des Betroffenen erst nach neun Monaten bearbeitet worden, in dem anderen Verfahren erst nach über zwei Jahren.
Bei gravierenden Widersprüchen und Zeichen für ein „asyltaktisches Vorgehen“ und bei erheblicher Inkonsistenz und beliebig wirkenden Anpassungen kann das Gericht einen Kläger für unglaubwürdig halten, meint das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 17. Mai 2024 (Az. 1 A 2264/23). Ein Anhaltspunkt für ein asyltaktisches Vorgehen könne etwa sein, dass der Vortrag des Betroffenen über den gesamten Verlauf seines Asylverfahrens von erheblicher Inkonsistenz und beliebig wirkenden Anpassungen gekennzeichnet sei.
Das Amtsgericht Berlin Tiergarten äußert sich in seinem Beschluss vom 17. Juni 2024 (Az. 383 XIV 1037/24 B) zum Trennungsgebot beim Vollzug von Abschiebungshaft, wonach Abschiebungshaftgefangene gemäß § 62a Abs. 1 S. 2 AufenthG jedenfalls getrennt von Strafgefangenen inhaftiert sein müssen. Die in der Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel (Teilbereich Sicherungsverwahrung) vollzogene Abschiebungshaft verstoße gegen dieses Gebot und sei damit rechtswidrig, weil Abschiebungshaftgefangene dort in demselben Gebäude wie Sicherungsverwahrte inhaftiert seien und abgesehen von einigen Modifikationen den für diese geltenden rechtlichen Regelungen des Strafvollzugsgesetzes statt wie bisher dem eigenen Rechtsregime des Gesetzes über den Abschiebungsgewahrsam im Land Berlin unterworfen seien. Der Begriff der „Strafgefangenen“ im Sinne von § 62a Abs. 1 S. 2 AufenthG meine allgemein aufgrund von Strafrecht Untergebrachte, was auch Sicherungsverwahrte umfasse.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International unterstützt eine Sammelklage von 24 Flüchtlingen, die als Schutzsuchende in Litauen in den Jahren 2021 und 2022 über Monate inhaftiert waren, ohne dagegen Rechtsmittel ergreifen zu können. Die litauische Regierung hatte im Sommer 2021 beschlossen, Schutzsuchende stets zu inhaftieren, wenn sie das Land irregulär betreten hatten. Der Europäische Gerichtshof hatte im Juni 2022 die Europarechtswidrigkeit dieser Regelung festgestellt (siehe HRRF-Newsletter Nr. 52), das litauische Verfassungsgericht im Juni 2023 die Verfassungswidrigkeit der Regelung (siehe HRRF-Newsletter Nr. 99). Mit der Sammelklage soll erreicht werden, dass von der Inhaftierung Betroffene eine finanzielle Entschädigung in Höhe von 5.000 Euro pro Person erhalten. Weitere Betroffene können sich der Sammelklage derzeit noch anschließen.
Die LTO und die taz berichten über Vorwürfe gegen einen unter anderem für Asylverfahren zuständigen Richter am Verwaltungsgericht Gera, der in einem Online-Forum über Jahre migrantenfeindliche und rassistische Äußerungen getätigt haben soll. Der Richter bestreitet die Vorwürfe. Bereits im November 2023 hatte der MDR und im April 2024 die taz über eine in Teilen sehr restriktive asylgerichtliche Spruchpraxis am Verwaltungsgericht Gera berichtet, die auch auf den Richter zurückzuführen sein soll, gegen den jetzt erneut Vorwürfe erhoben worden sind.
Griechische NGOs haben aktuelle griechische Asylrechtsprechung aus dem ersten Halbjahr 2024 in einem 43-seitigen Asylum Case Law Report (in griechischer Sprache) zusammengefasst und analysiert.