Die neue Textausgabe zum Deutschen Migrationsrecht ist da - jetzt herunterladen oder bestellen!
Ausgabe 54 • 15.7.2022

Verschachteltes Regelungssystem

Die Woche bringt nicht nur wundersame Wortschöpfungen, sondern auch Entscheidungen zur Berücksichtigung von Rückkehrhilfen bei der Gefahrenprognose zu einem nationalen Abschiebungsverbot, zu Dublin-Überstellungen nach Dänemark, zur Flüchtlingsanerkennung für einen russischen Online-Aktivisten, zu einer verweigerten Ehrenerklärung, zum Kirchenasyl, zu Details des asylgerichtlichen Zustellungsrechts und zur aufenthaltsrechtlichen Verteilung.

Berücksichtigung von Rückkehrhilfen bei der Gefahrenprognose zu einem nationalen Abschiebungsverbot

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext seines Urteils vom 21. April 2022 (Az. 1 C 10.21) veröffentlicht, in dem es darum geht, inwiefern Rückkehrhilfen die Gefahrenprognose bei einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG beeinflussen können. In der Entscheidung geht es letztlich darum, welcher zeitliche Horizont zugrunde zu legen ist, wenn eine Rückkehrhilfe eine menschenrechtswidrige Verelendung im Herkunftsland möglicherweise nur temporär ausschließt. In seiner Pressemitteilung vom 21. April 2022 hatte das Gericht noch unheilvoll davon gesprochen, dass Abschiebungsschutz nur in Frage käme, wenn dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit drohe. Im Urteil (Rz. 25) liest sich das jetzt ein wenig differenzierter, weil das Gericht einen weiteren Gedanken ins Spiel bringt: Je länger nämlich der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung sei, desto höher müsse die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein. Anscheinend geht es hier um zwei unterschiedliche zeitliche Zusammenhänge, die beide einen Einfluss auf die Gefahrenprognose haben sollen und nur im Einzelfall ermittelt werden können (s. Rz. 21 des Urteils). Für die Instanzgerichte bedeutet das vermutlich Rechenaufgaben, weil sie konkrete Zeiträume ermitteln (s. Rz. 28 des Urteils) und die im Einzelfall zu treffende Gefahrenprognose darauf abstimmen müssen.

Keine Dublin-Überstellungen syrischer Schutzsuchender aus den Niederlanden nach Dänemark

In zwei Entscheidungen vom 6. Juli 2022 (Az. 202106573/1 und 202105784/1) hat der niederländische Staatsrat (Raad van State) klargestellt, unter welchen Voraussetzungen Dublin-Überstellungen aus den Niederlanden stattfinden dürfen, und dass diese Voraussetzungen für syrische Schutzsuchende derzeit nicht erfüllt seien, wenn es um Überstellungen nach Dänemark gehe. Danach sei eine Dublin-Überstellung besonders begründungsbedürftig, wenn sich die Schutzpolitik in einem anderen Dublin-Mitgliedstaat „offenkundig und grundlegend“ von der Schutzpolitik der Niederlande unterscheide, so dass von vornherein feststehe, dass der Betroffene in den Niederlanden grundsätzlich internationalen Schutz erhalte, während er in dem anderen Mitgliedstaat keinen solchen Schutz erhalte. Das höchste nationale Asylgericht des anderen Mitgliedstaates dürfe die dort geltende Schutzpolitik außerdem nicht ablehnen. Im Fall einer Dublin-Überstellung syrischer Schutzsuchender nach Dänemark führten diese Maßstäbe dazu, so der Staatsrat, dass die niederländische Behörden näher begründen müssten, dass die dänischen Behörden ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen würden: Dänische Behörden und Gerichte würden die syrische Hauptstadt Damaskus als sicheres Gebiet betrachten, während Syrer in den Niederlanden im Prinzip weiterhin internationalen Schutz genießen würden.

Flüchtlingsanerkennung nach Flucht aus Russland und anschließender kriegskritischer Online-Aktivität

Mit Urteil vom 17. Juni 2022 (Az. 1 A 14/22) hat das Verwaltungsgericht Göttingen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, einen 2018 aus der Russischen Föderation geflüchteten Online-Aktivisten als Flüchtling anzuerkennen. Der Kläger äußere sich im Internet seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 ablehnend zu Umständen der Kriegsführung, die er als Kriegsverbrechen bewerte. Diese Aktivitäten stellten sich nach Überzeugung des Gerichts als Fortentwicklung der politischen Aktivitäten des Klägers in seinem Heimatland dar, womit die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1a AsylG erfüllt seien. Im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation wäre der Kläger auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde.

Immer noch keine Leistungseinschränkung nach verweigerter Ehrenerklärung

Das Landessozialgericht Darmstadt hat mit Beschluss vom 23. Juni 2022 (Az. L 4 AY 13/22 B ER) entschieden, dass eine Beschränkung der Leistungen nach dem AsylbLG nicht darauf gestützt werden kann, dass sich ein Leistungsberechtigter weigert, bei der für ihn zuständigen Botschaft eine Ehrenerklärung zu unterschreiben, er wolle freiwillig in sein Heimatland zurückkehren. Das LSG verweist zu Recht auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Oktober 2013 (Az. B 7 AY 7/12 R), das genau diese Frage bereits entschieden hatte. Das erstinstanzlich mit dem Verfahren befasste Sozialgericht Frankfurt hatte offenbar probiert, diesen Grundsatz zu relativieren, weil das BSG seine Auffassung „nicht näher dargelegt habe“.

Erneut Freispruch nach Gewährung von Kirchenasyl

Das Landgericht Würzburg hat einem Medienbericht zufolge am 14. Juli 2022 eine Ordensschwester in zweiter Instanz vom Vorwurf freigesprochen, durch Gewährung von Kirchenasyl in zwei Fällen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt geleistet zu haben. Bereits im Februar 2022 hatte das Bayerische Oberste Landesgericht in einem ähnlich gelagerten Verfahren auf Freispruch entschieden (Urteil vom 25. Februar 2022, Az. 201 StRR 95/21).

Zustellung bei mehreren Bevollmächtigten

In seinem Beschluss vom 12. Mai 2022 (Az. 1 B 14.22) erläutert das Bundesverwaltungsgericht einige Feinheiten der asylgerichtlichen Zustellung an mehrere Bevollmächtigte eines Verfahrensbeteiligten. Danach genügt bei mehreren Prozessbevollmächtigten die Zustellung an einen von ihnen und ist bei Zustellungen an mehrere Prozessbevollmächtigte für den Beginn der Rechtsmittelfrist die zeitlich erste Zustellung maßgeblich. Das ist im Strafprozessrecht übrigens anders (siehe § 37 Abs. 2 StPO).

Keine Duldung vor der Verteilung

Das Oberverwaltungsgericht Weimar widmet sich in seinem Beschluss vom 22. Juni 2022 (Az. 4 EO 133/22) den Tiefen und Untiefen des aufenthaltsrechtlichen Verteilungsverfahrens gemäß § 15a AufenthG. Danach handele es sich bei dem Verteilungsverfahren um ein „komplexes und verschachteltes Regelungssystem„, und sei jedenfalls die beklagte Ausländerbehörde vor Durchführung des Verteilungsverfahrens für die Erteilung einer Duldung (noch) gar nicht zuständig. Das ebenso involvierte Thüringer Landesverwaltungsamt hat sich wohl auch im verschachtelten Regelungssystem verlaufen, weil sich das OVG einen Hinweis auf die seiner Ansicht nach rechtlich unzutreffende Auffassung des Landesverwaltungsamts nicht verkneifen kann, wonach eine Verteilungsentscheidung erst ergehen könne, wenn sich der Betroffene tatsächlich in der für ihn zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung aufhalte.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Mit Beschluss vom 24. Mai 2022 (Az. 1 B 23.22) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Kassel vom 26. Oktober 2021 (Az. 8 A 1852/20.A) zurückgewiesen, das für gesunde und arbeitsfähige international Schutzberechtigte in Bulgarien keine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sah. Die Revision hatte unter anderem die Frage als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfen, welche Auswirkungen der Entzug des internationalen Schutzes in Bulgarien hätte, das BVerwG sah aber keine tatsächliche Grundlage für eine solche Annahme.

In seinem Beschluss vom 11. Mai 2022 (Az. 1 B 36.22) hat das BVerwG eine Anhörungsrüge im Verfahren 1 B 49.21 (Beschluss vom 14. Februar 2022) zurückgewiesen, weil es den Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches Gehör nicht verletzt habe. Es habe das Vorbringen der Klägerinnen zur grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Berücksichtigung von Reintegrationsleistungen bei der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG inhaltlich gewürdigt, teile lediglich nicht die Rechtsauffassung der Klägerinnen.