Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 22. September 2022 (Rs. C-245/21 und C-248/21) entschieden, dass eine Aussetzung der Durchführung einer Dublin-Überstellungsentscheidung aufgrund der Covid-19-Pandemie keine Unterbrechung der sechsmonatigen Überstellungsfrist bewirkt.
Art. 27 Abs. 4 Dublin‑III‑Verordnung sehe zwar vor, dass die Durchführung einer Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung ausgesetzt werden könne, allerdings nur in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person. Würde man den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 4 Dublin‑III‑Verordnung weiter ziehen, brächte dies die Gefahr mit sich, der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung genannten Überstellungsfrist jegliche Wirksamkeit zu nehmen, die sich aus der Dublin‑III‑Verordnung ergebende Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zu verändern und die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz dauerhaft in die Länge zu ziehen. Auch die Widerruflichkeit einer Entscheidung über die Aussetzung einer Überstellungsentscheidung stehe der Annahme entgegen, dass die Aussetzung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung und mit dem Ziel angeordnet wurde, den gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person sicherzustellen, da nicht auszuschließen sei, dass es vor dem Abschluss dieses Rechtsbehelfs zu einem Widerruf der Aussetzung komme.
Der Unionsgesetzgeber sei außerdem nicht der Ansicht gewesen, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 Dublin‑III‑Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne. Die Dublin-III-Verordnung solle eine zügige Bearbeitung von Asylanträgen erreichen, wozu der Unionsgesetzgeber die in Anwendung der Dublin‑III‑Verordnung geführten Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren mit einer Reihe zwingender Fristen versehen habe, um zu gewährleisten, dass diese Verfahren ohne nicht gerechtfertigte Verzögerung durchgeführt werden.
Der EuGH berichtet über diese Entscheidung auch in einer Pressemitteilung.
Wenn geheime Gründe der nationalen Sicherheit dazu führen sollen, dass internationaler Schutz in einem Aufnahmeland nachträglich aberkannt wird, und wenn die zuständige Asylbehörde eigentlich auch nicht weiß, worum es geht, sondern pauschal verpflichtet ist, einem Hinweis auf solche geheimen Gründe zu folgen, dann kann es eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen. So sieht das auch der Europäische Gerichtshof, der mit Urteil vom 22. September 2022 (Rs. C-159/21) entschieden hat, dass entsprechende Regelungen im ungarischen Recht nicht mit der EU-Verfahrensrichtlinie und der EU-Qualifikationsrichtlinie vereinbar sind.
Sofern internationaler Schutz aberkannt werde, müssten der Betroffene oder jedenfalls sein Rechtsbeistand Zugang zu den Verfahrensakten haben und Kenntnis von ihren wesentlichen Inhalten erlangen können. Die Verteidigungsrechte des Betroffenen würden dann nicht gewahrt, wenn ein solcher Zugang zwar auf Antrag gewährt werden könne, die erlangten Informationen aber in einem Verwaltungsverfahren oder in einem gerichtlichen Verfahren nicht verwendet werden dürften. Außerdem müsse die zuständige Asylbehörde eine Entscheidung über die Aberkennung internationalen Schutzes in Kenntnis aller relevanten Tatsachen und Umstände selbst prüfen, und dürfe nicht pauschal dazu verpflichtet werden, zumal sie die zur Aberkennung des internationalen Schutzes führenden Gründe in ihrer Entscheidung anzugeben habe.
Der EuGH berichtet über diese Entscheidung auch in einer Pressemitteilung.
Man hatte es geahnt, nun hat der Europäische Gerichtshof es in seinem Urteil vom 22. September 2022 (Rs. C-497/21) entschieden, das auf eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Schleswig (Beschluss vom 6. August 2021, Az. 9 A 178/21) zurückgeht: Ein in einem Dublin-Staat außer Dänemark gestellter Folgeantrag darf nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) der EU-Asylverfahrensrichtlinie als unzulässig abgelehnt werden, wenn der frühere Asylantrag in Dänemark gestellt und abgelehnt wurde. Weder die EU-Qualifikationsrichtlinie noch die EU-Asylverfahrensrichtlinie fänden in Dänemark Anwendung, daher handele es sich bei dem in Dänemark gestellten Asylantrag nicht um einen Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. b) der EU-Asylverfahrensrichtlinie. In Bezug auf Norwegen hatte der EuGH diese Frage bereits in seinem Urteil vom 20. Mai 2021 (Rs. C-8/20) ähnlich entschieden.
Die Frage, ob die nach deutschem Recht erst nach Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung erfolgende Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse mit Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vereinbar ist, hat grundsätzliche Bedeutung und ist entscheidungserheblich, meint der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 11. Juli 2022 (Az. 10 ZB 22.30674). Die Entscheidungserheblichkeit einer klärungsbedürftigen Grundsatzfrage könne vom VGH nicht unter Hinweis auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte verneint werden, die im verwaltungsgerichtlichen Urteil entweder übergangen oder anders beurteilt worden seien. Das sieht das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Beschluss vom 29. August 2022 (Az. 19 A 1540/22.A) für eine ähnliche Konstellation allerdings anders.
Ein sorgeberechtigter Elternteil kann Familienasyl oder internationalen Schutz für Familienangehörige nach § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG auch von einem erst im Bundesgebiet geborenen minderjährigen Kind ableiten, dem Asyl oder internationaler Schutz zuerkannt wurde, sagt das Oberverwaltungsgericht Koblenz in seinem Beschluss vom 25. Juli 2022 (Az. 13 A 11241/21.OVG), und vertritt damit eine andere Rechtsauffassung als das Oberverwaltungsgericht Magdeburg, das dies in seinem Beschluss vom 15. Februar 2022 (Az. 4 L 85/21) anders gesehen hatte. Der Familienbegriff nach Art. 2 lit. j) der EU-Qualifikationsrichtlinie, auf den § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verweise, verlange hinsichtlich der Voraussetzung, dass die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden haben müsse, lediglich eine Familienidentität, nicht jedoch eine Personenidentität dergestalt, dass auch der Stammberechtigte oder ein ableitungsberechtigter Familienangehöriger bereits im Herkunftsstaat Teil der Familie gewesen sein müsse. Die danach erforderliche Familienidentität sei jedenfalls gegeben, wenn es sich bei dem Stammberechtigten wie hier um das eheliche Kind aus einer bereits im Herkunftsland geschlossenen Ehe handele. Das OVG hat die Revision zugelassen.
Ein Dublin-Wiederaufnahmegesuch ist nicht im Sinne des Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO fristwahrend, wenn das gemäß Art. 2 i.V.m. Anhang III der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 zu verwendende Formblatt fehlerhafte Angaben enthält, meint das Verwaltungsgericht Greifswald in seinem Urteil vom 7. September 2022 (Az. 3 A 1245/22 HGW). Dies hätte in der Praxis zur Folge, dass bei fehlerhaften Wiederaufnahmegesuchen die Frist des Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO abläuft und derjenige Dublin-Staat für die Prüfung des Asylantrags zuständig wird, in dem der Antrag gestellt wurde. Im entschiedenen Verfahren hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fehlerhaft angegeben, der Kläger habe das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zwischenzeitlich nicht verlassen. Selbst wenn die konkrete Falschangabe keine Auswirkungen auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats hätte, so das VG, handele es sich doch um eine Pflichtangabe; sei diese inhaltlich falsch, sei das Wiederaufnahmeersuchen insgesamt unzureichend.
Für eine länderübergreifende Umverteilung (Weiter- oder Rückverteilung) nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist grundsätzlich eine Behörde des Landes zuständig, in das der betroffene Ausländer zuvor nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG verteilt wurde, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 13. September 2022 (Az. 13 ME 150/22). Das OVG Lüneburg verweist zur Begründung auf die neuere Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen, insbesondere auf dessen Beschluss vom 7. Juli 2022 (Az. 2 B 104/22), dem es sich aus „eigener Überzeugung“ anschließe.
Das Bundesverfassungsgericht hat mittlerweile den Volltext seines Beschlusses vom 30. Mai 2022 (Az. 1 BvR 1012/20) veröffentlicht, über den bereits in Ausgabe 61 des HRRF-Newsletters berichtet wurde und in dem es um die verfassungswidrige Überspannung der Anforderungen an Erfolgsaussichten einer sozialgerichtlichen Klage geht. Das BVerfG schreibt darin nicht nur dem Sozialgericht Chemnitz ins leistungsrechtliche Stammbuch, dass Fachgerichte den Spielraum überschreiben, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der „hinreichenden Erfolgsaussicht“ verfassungsrechtlich zukommt, wenn sie einen Maßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten Partei die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird.
Die Europäische Asylagentur (EUAA) hat Ausgabe 3/2022 ihres vierteljährlichen, thematisch gegliederten Updates zur Asylrechtsprechung in der Europäischen Union veröffentlicht, das den Zeitraum Juni bis August 2022 abdeckt.