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Politische Überzeugung

Flüchtlingsschutz für homosexuelle Schutzsuchende, politische Überzeugung bei Verteidigung wirtschaftlicher Interessen, ein Abschiebungsverbot für Afghanistan, parallel laufende Dublin-Überstellungsfristen, keine Dublin-Überstellung nach Zypern, die Zuständigkeit für Anordnung auf Herausgabe von Datenträgern zur Identitätsfeststellung sowie Abschiebungshaft sind die Themen der Woche im mal wieder prallvollen HRRF-Newsletter.

  • Homosexueller Algerier vor VGH Kassel letztlich erfolgreich

    In dem Asylverfahren eines homosexuellen Algeriers, in dem das Verwaltungsgericht Frankfurt/Main im August 2022 noch von keiner Gefährdungslage in Algerien ausgegangen war, hat der Verwaltungsgerichtshof Kassel nunmehr mit Beschluss vom 29. Dezember 2022 (Az. 4 A 1654/22.Z.A) einen Schlusspunkt gesetzt und das Urteil des VG Frankfurt/Main aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen für wirkungslos erklärt. In dem Verfahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst eingelenkt und dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wie aus einer Pressemitteilung des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) vom 13. Januar 2023 hervorgeht. Grund für die Neuentscheidung des BAMF sei neben einer erneuten Anhörung durch eine Sonderbeauftragte auch die am 1. Oktober 2022 in Kraft getretene neue Dienstanweisung Asyl gewesen, so die hessenschau am 13. Januar 2023. Demnach sei bei der Gefahrenprognose bei Rückkehr einer Person fortan immer davon auszugehen, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität offen gelebt werde, und dürften LSBTIQ-Schutzsuchende laut Dienstanweisung in keinem Fall mehr auf ein diskretes Leben im Herkunftsland verwiesen werden.

  • Politische Überzeugung umfasst auch Verteidigung wirtschaftlicher Interessen

    In seinem Urteil vom 12. Januar 2023 (Rs. C-280/21) hat der Europäische Gerichtshof den Begriff der „politischen Überzeugung“ im Rahmen der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EG ausgelegt und meint, dass die politische Überzeugung die Versuche einer internationalen Schutz beantragenden Person erfasst, ihre persönlichen vermögensrechtlichen und wirtschaftlichen Interessen mit rechtlichen Mitteln gegen illegal operierende nicht staatliche Akteure zu verteidigen, wenn diese aufgrund ihrer durch Korruption zum betreffenden Staat unterhaltenen Verbindungen in der Lage sind, den Repressionsapparat dieses Staates zum Nachteil dieser Person zu instrumentalisieren, soweit diese Versuche von den Akteuren, von denen die Verfolgung ausgehen kann, als Opposition oder Widerstand in einer Angelegenheit, die diese Akteure oder deren Politiken und/oder Verfahren betrifft, aufgefasst werden.

  • Flüchtlingsschutz für homosexuellen Asylsuchenden aus Jamaika

    Mit Beschluss vom 15. Dezember 2022 (Az. 5 A 3052/20.A) hat der Verwaltungsgerichtshof Kassel das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, einem homosexuellen Asylsuchenden aus Jamaika die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der VGH ging davon aus, dass in Jamaika eine Gruppenverfolgung homosexueller Männer drohe, die dort das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllten. Männern, deren Homosexualität bedeutsamer Bestandteil ihrer sexuellen Identität sei, drohe gegenwärtig in Jamaika mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure, dabei sei nicht davon auszugehen, dass der jamaikanische Staat ausreichenden Schutz biete.

  • Abschiebungsverbot für Afghanistan wegen fehlender Existenzgrundlage

    Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass gesunde und leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre oder soziale Netzwerke in der Lage sind, sich auf niedrigem Niveau jedenfalls in Kabul eine Existenzgrundlage aufzubauen können, meint das Oberverwaltungsgericht Bautzen in seinem Urteil vom 10. November 2022 (Az. 1 A 1081/17.A), und hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entsprechend zur Feststellung eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG verpflichtet. Angesichts der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen in den Familien vor Ort sowie dem Misstrauen bis hin zur Ablehnung, dem abgelehnte Asylbewerber aus dem westlichen Ausland in Afghanistan begegneten, könne auch die Reintegration eines Rückkehrers in einen in Afghanistan vorhandenen Familienverband nicht ohne Weiteres erwartet werden. Das OVG hielt in seiner Entscheidung außerdem fest, dass Asylsuchende im Rahmen ihrer gesetzlichen Mitwirkungspflicht aus § 10 Abs. 1 AsylG bei einer eigenen Wohnung einen Briefkasten vorzuhalten und daran sowie an der Tür deutliche Namensangaben anzubringen.

  • EuGH zum Ablauf parallel laufender Dublin-Überstellungsfristen

    Mit Verfahren, in denen Asylanträge in mehreren Dublin-Staaten und daraufhin parallel Wiederaufnahmeersuchen gestellt worden waren, hatte sich der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. Januar 2023 (Rs. C‑323/21, C‑324/21 und C‑325/21) zu befassen. Dabei ging es um die Frage der Fristberechnung für Überstellungen in einer Konstellation, in der ein ersuchter Dublin-Staat verschiedenen Wiederaufnahmeersuchen unterschiedlicher anderer Dublin-Staaten parallel stattgegeben hat. Der EuGH entschied, dass der erste Fristablauf entscheidend sei und bei Nichtdurchführung der Überstellung zum Übergang der Zuständigkeit auf den ersten ersuchenden Dublin-Staat führe, auch wenn andere parallel laufende Fristen zur Überstellung des Betroffenen in den ersuchten Dublin-Staat noch nicht abgelaufen seien. Der Dublin-Staat, in dem sich der Betroffene tatsächlich befinde, können dann nur noch in den nunmehr zuständigen anderen Dublin-Staat überstellen, nicht mehr in den Staat, der der Wiederaufnahme ebenfalls zugestimmt habe, seine Zuständigkeit aber verloren habe. Der Betroffene müsse außerdem über einen schnellen und wirksamen Rechtsbehelf verfügen, um einen solchen Fristablauf geltend machen zu können.

  • Keine Dublin-Überstellung nach Zypern

    In seinem Beschluss vom 15. Dezember 2022 (Az. M 3 S 22.50694) geht das Verwaltungsgericht München davon aus, dass Schutzsuchenden im Asylverfahren in Zypern eine längere Periode der Obdachlosigkeit und damit einhergehend eine konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK droht, und hat entsprechend die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Dublin-Überstellung angeordnet.

  • Zuständigkeit für Anordnung auf Herausgabe von Datenträgern zur Identitätsfeststellung

    Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hält in seinem Beschluss vom 23. November 2022 (Az. 12 S 3213/21) die Frage der richtigen Ermächtigungsgrundlage für eine Anordnung der Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten durch die Ausländerbehörde nach unanfechtbar abgeschlossenem Asylverfahren für offen und hat es abgelehnt, die vom Verwaltungsgericht angeordnete aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine solche Anordnung aufzuheben. In dem Verfahren war der Betroffene durch eine Anordnung des Regierungspräsidiums Tübingen dazu verpflichtet worden, alle in seinem Besitz befindlichen Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können (z.B. Mobiltelefon, SIM-Karten, Tablet, Kamera, USB-Stick, SD-Karten, Notebook), sowie das dazugehörige Zubehör auszuhändigen und zu überlassen sowie die erforderlichen Zugangsdaten mitzuteilen. Die Anordnung war auf § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gestützt, das Verwaltungsgericht hielt dies für falsch und ging davon aus, dass sie auf §§ 15, 15a AsylG hätte gestützt werden müssen, für deren Vollzug das Regierungspräsidium Tübingen jedoch nicht zuständig sei. Die Frage, welche Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen sei, wenn die Ausländerbehörde gegenüber einem abgelehnten Asylbewerber die Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten anordnen will, werfe schwierige und bislang ungeklärte Auslegungsfragen auf, so der VGH, und sei entsprechend im Hauptsacheverfahren zu klären.

  • Organisatorischer Spielraum bei Abschiebungshaft

    In einem Beschluss vom 25. Oktober 2022 (Az. XIII ZB 116/19) meint der Bundesgerichtshof, dass der bei der Umsetzung einer Abschiebung bestehende organisatorische Spielraum der Behörde Planungsänderungen aus sachlichen Gründen wie die Umbuchung eines ursprünglich für eine bestimmte Person geplanten Flugs unter Berücksichtigung der verfügbaren Flugkapazitäten und anderweitig vorzunehmender Abschiebungen erlaubt, sofern innerhalb der bestehenden Überstellungsfrist ein möglichst zeitnaher neuer Abschiebetermin festgelegt wird.

  • Keine Abschiebungshaft ohne vollziehbare Ausreisepflicht

    In einem weiteren Beschluss vom 25. Oktober 2022 (Az. XIII ZB 65/20) hat der Bundesgerichtshof Abschiebungshaft in einem Verfahren für rechtswidrig erklärt, in dem gar keine vollziehbare Ausreisepflicht bestanden hatte. Das Beschwerdegericht, so der BGH, hätte sich nicht auf eine fehlerhafte Abschlussmitteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge verlassen dürfen, sondern hätte das Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung selbst prüfen müssen, die hier nicht vorgelegen hätte. Das BAMF habe lediglich angeordnet, dass im Falle einer hier erfolgten Klageerhebung die Ausreisefrist 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens enden solle.

  • Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

    In einem Beschluss vom 15. November 2022 (Az. 1 B 71.22) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 25. August 2022 (Az. 11 A 861/20.A) zurückgewiesen, in dem Verfahren ging es um eine Dublin-Überstellung nach Rumänien. In dem Verfahren um die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei Erfordernis einer „Reueerklärung“ (Az. 1 C 9/21) hat das BVerwG nunmehr auch den Volltext seines Urteils vom 11. Oktober 2022 veröffentlicht.

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ISSN 2943-2871