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Ausgabe 96 • 19.5.2023

Unterstellte Außerbetriebnahme

EU-Recht wird oberflächlich angewendet, in Kroatien werden systematisch Kettenabschiebungen durchgeführt und droht auch sonst Verelendung, und vom BAMF übersetzte Belehrungen sind unverständlich.

Asylgesuch ist kein Asylantrag

Das Verwaltungsgericht München meint in seinem Beschluss vom 21. April 2023 (Az. M 19 S 23.50316), dass das bloße Nachsuchen um Asyl gemäß § 19 Abs. 1 AsylG noch keinen Asylantrag im Sinne der Dublin-III-Verordnung darstellt, weil diese einen „förmlichen Asylantrag“ voraussetze. Das hat unter anderem zur Folge, dass Bestimmungen wie Art. 10 Dublin-III-VO, wonach der Mitgliedstaat, der den Asylantrag eines Familienangehörigen prüft, auch für weitere Familienangehörige zuständig ist, keine Anwendung findet.

Hier hat das VG München sich jedenfalls die Frage nicht gestellt, ob ein Nachsuchen um Asyl im Sinne des deutschen Asylgesetzes nicht bereits die Anforderungen an einen „Asylantrag“ im Sinne des EU-Sekundärrechts erfüllt: Die Dublin-III-VO verweist zur Definition eines Asylantrags auf die EU-Qualifikationsrichtlinie, die nicht zwischen formlosem und förmlichem Antrag differenziert; die EU-Asylverfahrensrichtlinie geht wohl davon aus, dass auch ein lediglich formlos gestellter Antrag, „bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt“ (Art. 2 b) EU-Asylverfahrensrichtlinie), einen Asylantrag konstituiert, wie sich im Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 2 der EU-Asylverfahrensrichtlinie ergibt. In Hinblick auf die gebotene autonome Auslegung von EU-Sekundärrecht hätte hier jedenfalls irgendeine Auseinandersetzung mit dieser Materie nahegelegen.

Kettenabschiebungen in Kroatien

Das Verwaltungsgericht Braunschweig geht in seinem sehr lesenswerten Urteil vom 8. Mai 2023 (Az. 2 A 269/22) davon aus, dass die Ausweisung von Asylsuchenden ohne individuelle Prüfung ihrer Asylanträge seit Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Migrationssteuerung durch das kroatische Innenministerium sei, und dass Anhaltspunkte dafür bestünden, dass auch die Organe der Europäischen Union die ungeprüfte Ausweisung von Asylsuchenden durch die kroatischen Behörden billigten. Die tatsächlichen Erkenntnisse über den Umgang mit Asylsuchenden in Kroatien erschütterten somit das Vertrauen der EU-Mitgliedsstaaten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in Kroatien in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention stehe.

Es sei außerdem nur dann gerechtfertigt, die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von der Gruppe der sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, wenn es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder dem entscheidenden Gericht gelinge, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt seien, nicht drohen. Angesichts der Masse der vorliegenden Erkenntnismittel, die Kroatiens mangelnde Bereitschaft zur Aufnahme oder auch nur zu einer menschenwürdigen Behandlung Geflüchteter belegen, sei nicht nachvollziehbar, wie etwa das OVG Lüneburg in seinem Beschluss vom 22. Februar 2023 (Az. 10 LA 12/23) zu der Einschätzung komme, es lägen „unzureichende tatsächliche Erkenntnisse“ dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer in Kroatien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt seien und das Asylsystem in Kroatien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leide.

Drohende Verelendung in Kroatien

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf meint in seinem Gerichtsbescheid vom 29. März 2023 (Az. 12 K 846/23.A), dass eine ältere behandlungsbedürftige Frau, deren Tochter legal in Deutschland lebt, nicht im Rahmen einer Dublin-Überstellung nach Kroatien abgeschoben werden darf. Sie sei zum einen eine abhängige Person im Sinne von Art. 16 Dublin-III-Verordnung, außerdem drohe ihr aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheiten in Kroatien eine Verelendung und damit eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh. Über die Entscheidung berichtet RA Marcel Keienborg in seinem Blog.

Anforderungen an die Übersetzung asylverfahrensrechtlicher Belehrungen

Grundsätzlich kann es Asylsuchenden zugemutet werden, sich zusätzlichen Rat einzuholen, wenn sie als juristische Laien in einem fremden Rechtssystem Hinweise nicht eindeutig verstehen, sagt das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Beschluss vom 5. Mai 2023 (Az. 14a L 510/23.A), jedoch gebe es dabei Grenzen. Diese Grenzen seien jedenfalls überschritten, wenn der einem Asylsuchenden ausgehändigte Text so unzureichend übersetzt sei, dass nicht mehr von kleineren Ungenauigkeiten oder einem möglicherweise in der Umgangssprache eher unüblichen Gebrauch einzelner Formulierungen gesprochen werden könne, sondern er nicht mehr den allgemeinen kommunikativen Anforderungen des (Fach-)Sprachgebrauchs der Sprache entspreche, deren Verständnis zu erwarten sei.

In dem Verfahren ging es um eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in die türkische Sprache übersetzte Belehrung, in der unter anderem das Nichtbetreiben des Verfahrens wörtlich als „außeroperationelle Unterstellung“, wohlwollend als „Unterstellung der Außerbetriebnahme“ übersetzt worden war. Dies, so das VG, entspreche nicht mehr den Vorgaben des § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylG, wonach ein Ausländer frühzeitig in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, über den Ablauf des Verfahrens und über seine Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere über Fristen und die Folgen einer Fristversäumung, unterrichtet werden müsse.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Mit Beschluss vom 14. April 2023 (Az. 1 B 1.23) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde in einem Verfahren zurückgewiesen, in dem es um eine Klage gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt und ein Urteil des VGH München vom 27. September 2022 (Az. 10 B 22.263) ging. Das BVerwG hielt die Frage, ob die Prüfung der Voraussetzungen des gesteigerten Ausweisungsschutzes einschließlich einer möglichen Unterbrechung der Kontinuität zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung abschließend sei bzw. ob diese Prüfung auf den behördlichen Verlustfeststellungszeitpunkt beschränkt sei oder ob es eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit geben müsse, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für bereits geklärt.

In zwei Beschlüssen vom 27. März 2023 (Az. 1 B 72.22 und 1 B 74.22) hat das BVerwG Nichtzulassungsbeschwerden gegen Entscheidungen des OVG Münster zurückgewiesen. In den Verfahren ging es um Dublin-Überstellungen nach Rumänien, die Revision hatte Verfahrensmängel und Verstöße gegen Art. 6 EMRK geltend gemacht.